“Schauspiel des Geistes” im “Kaiserbahnhof” zu Potsdam

Kleines Tagebuch einer Stadt- und Landpartie in und um Berlin
Von Harald Fietz
Er landete gerade rechtzeitig zum Niedergang der Griechen bei der Fußball-EM. Genau 20 Jahre nach dem gemeinsamen Besuch mit Wolfgang Gerstner beim legendären Berliner-Sommer-Open betrat Hartmut Metz wieder einmal Berliner Boden und wollte auch ein wenig Schach spielen. Die Bundeshauptstadt hat es immer noch nicht geschafft, einen metropolengerechten Flugplatz zu bauen und so konnte Swantje Munser und der Autor den Rochade-Tausendsassa vom gemütlichen innerstädtischen Landeplatz in Berlin-Tegel abholen und in kurzer Zeit in Berlin-Wedding, im Hauptstadtbezirk Mitte vor den Fernseher chauffieren. Zur zweiten Halbzeit fielen die deutschen EM-Tore noch serienweise; der griechische Kicker sparte mit Gegenwehr und so konnten wir um Mitternacht mit Rotkäppchen-Sekt nicht nur auf den 4:2-Sieg, sondern meinen Geburtstag und die Planung des kulturellen Teils am Samstag anstoßen.

Hartmut Metz und Swantje Munser
Super-cool auf der EM-Fan-Meile vor dem Brandenburger Tor: Hartmut Metz, der „Puma“ trägt, und
Swantje Munser. Foto: Harald Fietz

Die Touristen-Boom-Gegend rund um das Brandenburger Tor erwies sich mit der Ausstellung „Choreographie der Massen – im Sport, im Stadion, im Rausch“ in der Akademie der Künste sowohl als optischer Leckerbissen wie auch als philosophische Entdeckung. Gustave Le Bon wurde für Hartmut zur bevorzugten Inspiration der nächsten Tage. Die Ansammlung von Individuen ist das bevorzugte Thema des französischen Psychologen am Ende des 19. Jahrhundert: „Die Hauptmerkmale des Einzelnen in der Masse sind das Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewussten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung“, heißt es in seinem Hauptwerk „Psychologie der Massen“. So hätten auch viele Bilder beim Kreuzberger Browse-Pressefoto-Festival gedeutet werden können, unserer zweiten Destination bevor es in der Bergmann-Straße einen verdienten Stopp bei Kaffee und Erdbeer-Kuchen gab.

Noch hofften Metz (links) und Fietz nur auf eine Partie mit dem großartigen Viktor Kortschnoi. Foto: Swantje Munser

Den schwul-lesbischen Christopher-Street-Day erlebten wir dagegen nur noch als Müll-Reste der Umzugsstrecke, und bei fleischreichen Menüs bei einem Griechen im Vorort Berlin-Karow floss am frühen Abend der Ouzo reichlich und das Mahl erwies sich als leckerer als das maue 2:0 der Spanier gegen die Franzosen. Es herrschte noch die Stimmung, dass Deutschland bei dieser Euro 2012 was reißen kann.

Zug vor und in Zügen: Der Kaiserbahnhof als Ort für die Weltpremiere des alternierenden Blind-Simultan. Foto: Swantje Munser

Und das wollten wir dann ebenfalls am Schachbrett am Sonntag mit 15-Minutenpartien an den beiden Spitzenbrettern des Journalisten-Teams, alles als Rahmen für eine Weltpremiere, ein alternierendes Blindsimultan. Sperriger Name für eine seltsame Sache. Blindschach allein ist schon komplex; Blindschachsimultan ungleich komplexer und das Ganze als Version mit einem Dreier-Team, bei dem jeder nach vier Zügen wieder dran ist. Auch wenn mit Blindsimultan-Weltrekordler Marc Lang, Schach-Dauerbrenner Vlastimil Hort und Jungstar Rasmus Svane gleich drei herausragende Könner gegen ein Jugendteam mit DSJ-Talenten von 10 bis 18 Jahren harmonieren sollten, so äußerten viele Experten zuvor Skepsis. Würden nicht viele Köche, sprich 3 Blinde mit unterschiedlichen Spielstilen, einen Zugbrei anmixen, der es den sehenden Jugendauswahlspielern leicht macht. Als die ungefähr 100 Zuhörer der Podiumsdiskussion zuvor ihre Prognose geben sollten, votierte nur ein Drittel für das alternierende Team. Hartmut und ich schlossen uns voll Überzeugung der Minderheit an. Danach mussten wir uns dann aber auf eine Mehrzahl an prominenten Gegnern bei den Mannschaftsvergleichen der schreibenden Zunft gegen verschiedene, stark formierte „Berufsgruppen“ einstellen: die DSB-Funktionäre (gleich 1 Großmeister, 2 Internationale Meister, 2 Frauengroßmeisterinnen), die Vertreter der Emanuel Lasker Gesellschaft (2 Großmeister, 3 FIDE-Meister) und einige andere starke Spieler bei Eisenbahnern, Zahnärzten, Politikern und Unternehmern. Die Sensation war natürlich Viktor Kortschnoi, der schon seit dem Gründungskongress 2001 Ehrenmitglied der Lasker-Gesellschaft ist. Zwar ist der 81-Jährige nach vielen Schachreisen nunmehr körperlich etwas gebrechlich, aber am Brett immer noch verbissen: Dicht umlagert erlebten wir meist das Brett des zweifachen Vizeweltmeisters von 1978 und 1981. Hartmut hoffte, dass der Wahlschweizer lange durchhält, denn in Runde 4 trafen die Schreiber auf die schachhistorische Gesellschaft! Der Metz-Start klappte holprig: eine Null gegen GM Mladen Muse kann passieren, ein Remis in gewonnener Stellung gegen Landesligaspieler Reinhard Müller war ärgerlich und ein Verlust gegen einen weiteren Stadtligaspieler ebenso. Doch dann die Turnierhalbzeit der 7 Runden: Viktor war noch da und harrte schon des letzten Opfers vor dem Abschied zum Flughafen. Hartmut bekam also seine große Chance, und ich schaute fast mehr herüber statt GM Martin Krämer ausreichend Paroli zu bieten.

Munteres Figurenziehen zwischen Metz (links) und Kortschnoi, der seine Dame auf h8 nach Turm-Schlagen ins Abseits stellte. Foto: Swantje Munser

Ein wechselhaftes Hauen-und-Stechen am Nachbar-Brett und irgendwie blieb Kortschnois Dame auf h8 im Abseits, derweil die Masse von Hartmuts Figuren der „Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung“ folgte und Viktors König ins Visier nahm. Bumm, ein Fehlgriff und es war aus … minutenlanges Lamentieren in russischer Sprache als Zugabe, vielleicht auch einige Flüche darunter. Das Wort „Glück“ fiel mehr als einmal, aber man sehe selbst.
Partie Kortschnoi – Metz (online nachspielen)
Hartmut blieb gelassen und suchte noch bei Ehefrau Petra Kortschnoi nach einem versöhnlichen Stimmungsumschwung. Schulterklopfen der Beobachter gab es trotzdem … später klappte es gegen die Großmeister Markus Stangl und GM-Bundestrainer Uwe Bönsch leider nicht, einen zweiten Coup zu landen. Der gelang mir gegen die Unternehmer-Truppe, wobei ich IM Gernot Gauglitz, zugleich Geschäftsführer des DSB-Sponsors UKA (Umweltgerechte Kraft-Anlagen), in einem wilden Blitz-Zeitnot-Gefecht in ausgeglichener Stellung nach Zeit niederrang. Aus seinen 40 Sekunden gegen meine 25 Sekunden wurde seine Zeitüberschreitung, die ich mit einer Sekunde Restzeit reklamierte. Doch reichte dieser Drive anschließend gegen DSB-Präsident IM Herbert Bastian nicht. Trotz meiner schottischen Lieblingsvariante verwirrte mich die unorthodoxe Variante des Saarländers. Dennoch waren wir nach 5 Stunden zufrieden … ach ja, das Blindsimultan wurde letztlich einseitig mit einem 5:1-Sieg für die Team-Player entschieden. Die Jugend machte einfach viele positionelle Schnitzer – nachzulesen auf der Turnier-Webseite unter http://www.schauspiel-des-geistes.de/ … Dort steht auch, dass unseren Mannschaftswettbewerb überraschend die Eisenbahner gewannen! Am frühen Abend schafften wir es dann über regennasse Straßen vor unseren kleinen Fernseher zum vermeintlichen EM-Klassiker England gegen Italien, einer Nullnummer mit glücklichem Elfmeterschießen-Ausgang für die Halbinsel gegen die Vollinsel. Diese Italiener sollten doch den selbstbewussten DFB-Kickern endlich mal nicht gefährlich werden. Das kam schließlich alles anders auf dem grünen Rasen, doch in viel lebhafterer Erinnerung werden uns die genutzten und verpassten Schachzüge an diesem 24. Juni im Potsdamer Kaiserhof bleiben, im tollen Ambiente einer Bahnhofsanlage von Kaiser Wilhelm dem II, die die Deutsche Bahn zu einem Tagungszentrum umbaute.

Alle beim Kiebitzen drinnen? Der monumentale Kaiserbahnhof mit seiner trutzigen Architektur aus Sandstein. Foto: Swantje Munser

Müsste ich Hartmut etwas in das Poesie-Album des verlängerten Berliner Wochenendes schreiben, so wäre wieder Le Bon ein möglicher Stichwortgeber für den Metz‘schen Figurenaufmarsch: „Je weniger die Masse vernünftiger Überlegung fähig ist, um so mehr ist sie zur Tat geneigt.“ Oder wird die nachspielende Schachwelt mit seinem „lucky punch“ gegen Viktor gnädiger sein? Vielleicht sollten wir einfach den FC St. Pauli und seine T-Shirt-Aktion vom Weltpokalsieger-Bezwinger als Vorbild nehmen und den Metz als Ex-Vizeweltmeister-Legenden-Bezwinger feiern. Wer lässt die T-Shirts drucken?

Bericht im pdf-Format
Kortschnoi – Metz: Partie online