Gelfand - Schirow
Beim Rubinstein Memorial 1998 überraschte Gelfand Alexej Schirow mit einer Fortsetzung, die Eingang in eine Datenbank mit den 100 überraschendsten Partiezügen fand.

Israel befindet sich trotz Gelfands Niederlage im Schach-Fieber
Von Hartmut Metz

„Boris, Boris!“ Solch enthusiastische Begrüßungschöre samt rhythmischem Klatschen wie auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv erleben Schachspieler höchst selten. Boris Gelfand wurde nach seiner Rückkehr nach Israel gefeiert wie ein Champion. Während sich die Inder an die Erfolge von Weltmeister Viswanathan Anand gewöhnt haben, schlug selbst die achtbare Niederlage in der Verlängerung der WM Gelfands Landsleute in den Bann. Schach war plötzlich das Top-Thema in den Medien. Premierminister Benjamin Netanjahu, der im Vorjahr noch gegen Gelfand ein Freundschaftsduell ausgetragen hatte, kommentierte trotz aller Krisen das Geschehen bei der WM. „Wenn ich groß bin, will ich Boris Gelfand sein“, wünschten sich plötzlich Schulkinder, berichtete Shay Bushinsky auf der englischsprachigen Webseite der Hamburger Software-Firma Chessbase. Ganz Israel sei „schachverrückt – ein Phänomen, das vielleicht nur vor 40 Jahren in Island beobachtet wurde“, befand Schachprogramm-Guru Bushinsky mit Blick auf das Match des Jahrhunderts 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski. „Zu lange wurde Schach als Zeitvertreib für ältere Menschen in den Parks gesehen. Mein Erfolg soll nun für meine Nachfolger genutzt werden“, betonte Gelfand. Der 43-Jährige durfte sich freuen, dass die Regierung das Budget für die Nachwuchsförderung in der Randsportart umgehend verdoppelte.
Außer mit seinem couragierten Auftritt gewann Gelfand auch durch sein gewohnt faires Auftreten rund um den Globus Sympathien. Seinen Freund Anand wollte er nicht hintergehen – obwohl die Verlockung sicher groß war: Im September hatte Garri Kasparow unerwartet eine Zusammenarbeit angeboten. Der zurückgetretene Ex-Weltmeister gilt noch immer als grandioser Eröffnungsexperte. Doch aus moralischen Gründen lehnte Gelfand ab! „Ich war wirklich geschockt“, sagte er im Interview mit der Webseite www.chessvibes.com und begründete, „ich wusste, dass er im vorherigen WM-Match Anand half und mit Hikaru Nakamura zusammenarbeitete – deshalb lehnte ich natürlich ab. Für mich war es undenkbar, Hilfe von jemandem zu bekommen, der Zugang zu Geheimnissen meiner Kollegen hat.“ Dass „solch ein großer Spieler“ wie Kasparow fortan aus Rache nur noch schlecht über das WM-Match, Anand und ihn redete, traf den gutmütigen Israeli.
Die wichtigsten Partien der WM analysierten wir in den letzten Schachspalten. Nachstehend daher die wohl beste Partie seiner Karriere: Beim Rubinstein Memorial 1998 überraschte Gelfand Alexej Schirow mit einer Fortsetzung, die Eingang in eine Datenbank mit den 100 überraschendsten Partiezügen fand.


W: Gelfand S: Schirow
1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.c4 Lg7 4.Sc3 d5 5.cxd5 Sxd5 6.e4 Sxc3 7.bxc3 c5 8.Tb1 0–0 9.Le2 cxd4 10.cxd4 Da5+ 11.Ld2 Dxa2 12.0–0 Lg4 13.Lg5 h6 14.Lh4 a5 15.Txb7 g5 16.Lg3 a4 17.h4 a3 18.hxg5 hxg5 19.Tc7 Die Neuerung fand Gelfand am Brett und entsprang keiner Vorbereitung, wie der frühere Weißrusse betonte. Sa6 20.Txe7 Db2 21.Lc4 Db4 22.Lxf7+ Kh8 Der Turm auf e7 hat kein Fluchtfeld mehr. Was jetzt? 23.Td7!! Ein sensationeller Zug. „Ich bin stolz, dass ich ihn schon weit vorher gesehen hatte. Schirow bezeichnete den Zug später als ,prosaisch‘ (und ich stimme ihm zu) – und er fürchtete noch weitere fantasievolle Züge!“ Lxd7 Sb8 24.Tc7 Sa6 25.Tc4 rettet erst den Turm und dann den Läufer auf f7. 24.Sxg5 Die Pointe. Weiß erhält durch die Ablenkung des Läufers von f3 Angriffsmöglichkeiten mit Springer und Dame. Db6 25.Le6! Der nächste Hammerzug, der die Verteidigungslinie nach h6 unterbricht. Dxe6 Lxe6 führt sofort ins Verderben: 26.Dh5+ Lh6 27.Dxh6+ Kg8 28.Dh7 matt. 26.Sxe6 Lxe6 27.Le5 Tf7 Lxe5 28.Dh5+ Kg8 29.Dg6+ Lg7 30.Dxe6+ Tf7 31.e5 Sc7 32.Db3 Ta5 33.Tc1 Sd5 (a2 34.Ta1 und der einzige Trumpf auf a2 geht verloren) 34.Tc8+ Tf8 35.Tc5 Txc5 36.dxc5 Td8 37.e6 Kf8 38.Dxa3. 28.Dh5+ Kg8 29.Dg6 Ld7 30.Lxg7 Txg7 31.Dd6 Droht Dd5+ nebst Dxa8. Kh7? Sc7 hält Gelfand für die trickreichste Verteidigung, zumal er für die nächsten neun Züge nur noch zehn Minuten Bedenkzeit zur Verfügung hatte. 32.Dxc7 Lh3 (Lb5 33.Dd6 Lxf1 34.Dd5+ Kh7 35.Dxa8 Lxg2 36.Kh2 a2 37.Dxa2 Lxe4 38.De6 sollte angesichts der fehlenden Koordination der schwarzen Figuren gewinnen) 33.Dc6 Ta5 34.Tc1! Txg2+ 35.Kh1 a2 36.De8+ Kh7 37.De7+ Kh6 38.Tc6+ Tg6 39.Df8+ Kh5 40.Dh8+ Kg5 41.Dd8+ Kf4 42.Dc7+ Kxe4 43.f3+ Ke3 44.Tc3+ Kd2 45.Dxa5. 32.Dxa3 Sc7 33.De3 Se6 34.d5 Sg5 35.f4 Sh3+ 36.Kh1 Ta2 37.f5! Umschifft die letzte Falle: 37.gxh3? Tgg2 38.Df3 Th2+ 39.Kg1 Txh3 40.Dd1 (40.Dxh3+ Lxh3 41.Tf2 Ta3 reicht zum Remis für Schwarz) Tg3+ 41.Kh1 Th3+ mit Dauerschach. Sg5 38.f6 Tg6 39.f7 Schirow verliert weiteres Material und gab daher auf. 1:0.

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