Anand – Carlsen: Weiß zieht – und verliert (unnötig)

Norweger gewinnt aufregende neunte Partie trotz fauler Dame
Von Hartmut Metz
Magnus Carlsen ist am Schluss in Chennai doch einmal richtig nass gemacht worden: Zwar blieb Viswanathan Anand dieses Vergnügen am Schachbrett versagt, aber was der entthronte „Tiger von Madras“ in seiner indischen Heimatstadt nicht schaffte, erledigten Helfer und Freunde des norwegischen Weltrang- listenersten während der Siegesfeier am Abend: Ein halbes Dutzend warf den neuen Weltmeister voll bekleidet in den Hotel-Pool! Carlsen nahm’s mit einem breiten Lachen, riss die Arme hoch und jubelte lautstark im Wasser. Anschließend lief der Schach-Superstar triefend nass durchs Hotel, um sich neue Klamotten zu holen. Als der 23-Jährige, der heute Geburtstag feiert, am Mittwoch in der Heimat ankam, erwarteten ihn hunderte Fans und zahlreiche Journalisten am Flughafen in Oslo. Der Medienhype um das kurzzeitige Model der Marke G-Star RAW erfuhr einen neuen Höhepunkt: Das norwegische Fernsehen übertrug selbst die Ankunft live. Carlsen reckte grinsend den WM-Pokal hoch und zeigte auch gerne den Schachkuchen, der ihm von Anhängern geschenkt wurde.
Die aufregendste Partie der WM war zweifellos die neunte. Anand setzte alles auf eine Karte und griff fulminant an. Die gefährlichen Drohungen des Gegners parierte Carlsen – und als der Titelverteidiger glaubte, das Duell nicht nur remisieren zu können, rechnete der neue Champion einmal mehr genauer und weiter. Erstaunlich an der sehenswerten Partie war des Weiteren: Ex-Weltmeister Garri Kasparow fragte sich hernach, ob dies der erste WM-Sieg der Historie war, in der die siegreiche Seite kein einziges Mal ihre Dame vom Ausgangsfeld bewegte.

W: Anand S: Carlsen
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.f3 d5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 c5 7.cxd5 exd5 Sxd5 ist zweischneidiger. 8.e3 c4!? Verpflichtend, aber auch interessant: Judit Polgar spielte den Zug bereits. Die weltbeste Spielerin wollte damit wie Carlsen die Aktivität des weißfeldrigen Läufers, der nicht nach d3 kommt, einschränken. Zudem kann Weiß das schwarze Zentrum nicht so leicht mit c4 aushebeln. Der Nachteil besteht darin, dass c4 schwach werden kann, sofern der d5–Bauer verschwindet. Häufiger wurde daher 0–0, Dc7 und Lf5 gezogen. 9.Se2 Sc6 10.g4 0–0 1997 in Tilburg spielte Polgar gegen Kasparow h6 11.Lg2 Sa5 12.0–0 Sb3 13.Ta2 0–0 14.Sg3 Ld7 15.De1 Te8 16.e4! dxe4 17.fxe4 Sxg4 18.Lf4 Dh4 19.h3 Sf6 20.e5 Tad8?! (Lxh3 mit Ausgleich) 21.Df2 Sh5 22.Lxh6 Te7? (Le6 23.Sxh5 Dxh5 24.Le3 beschert Weiß nur ein kleines Plus) 23.Sf5 Dxf2+ 24.Tfxf2 mit weißer Gewinnstellung. 11.Lg2 Sa5 12.0–0 Sb3 Der Springer-Vorposten ist ein weiteres Plus des Bauernzugs nach c4. 13.Ta2 b5 14.Sg3 14.a4 empfahl der polnische Großmeister Michal Krasenkow. a5 15.g5 Ganz im Geiste Kasparows schlug Krasenkow auch 15.e4!? vor. dxe4 (Sxc1? sieht dagegen schwach aus nach 16.Dxc1 dxe4?! 17.g5 Sd5 18.fxe4±) 16.Lg5 h6 17.Lxf6 Dxf6 18.fxe4 Dg5 19.e5 Tb8 20.De1 b4 21.axb4 axb4 22.Taf2 bewerten Programme als ausgeglichen. Se8 16.e4 Sxc1?! Sc7 gefällt Rechnern besser. 17.Dxc1 Ta6 18.e5 Sc7 19.f4 b4 20.axb4 Gleich 20.f5 ist auch eine Idee. b3 21.Taf2 und die Frage stellt sich, ob der weiße Angriff durchschlägt oder der b3–Bauer irgendwann den Tag entscheidet. axb4 21.Txa6 Sxa6 22.f5!? 22.cxb4 ist sicherer, um den gefährlichen Bauern zu beseitigen. b3! 23.Df4 23.Sh5 Sc7 24.Df4 Sb5 25.Dh4 sieht extrem gefährlich für den schwarzen Monarchen aus – doch Carlsen könnte danach ganz trocken kontern mit Lxf5!! (das arglose De7?? verliert beispielsweise sofort nach 26.Sf6+! gxf6 27.gxf6 Da3 28.Dg5+ Kh8 29.Dg7 matt; 25…Te8 ist nicht viel besser. 26.Sxg7! Kxg7 27.Dh6+ Kh8 28.g6 fxg6 29.fxg6 De7 30.Tf7 Dxf7 31.gxf7 Tg8 32.Df6+ Tg7 33.f8D matt) 26.Txf5 b2 27.Tf1 Sxc3 und der b-Bauer marschiert. Sc7 24.f6 g6 25.Dh4 Se8 Carlsen verteidigt sich präzise mit dem einzigen Rettungszug. Se6?? 26.Dh6 Kh8 27.Tf4 Tg8 ließe 28.Dxh7+ Kxh7 29.Th4 matt zu. 26.Dh6 26.Se2 ist ebenso interessant: Da5 27.Sf4 Le6 28.Lh3 Lxh3 29.Dxh3 b2 30.Se6!! Da1 31.Sxf8 Kxf8 32.e6 Sd6 33.Dh6+ Ke8 34.exf7+ Sxf7 35.Dh3 Kd8 36.Dg2 b1D 37.Dxd5+ Ke8 38.De6+ Kd8 39.De7+ Kc8 40.De6+ und der Rechner gibt ein Dauerschach. b2 27.Tf4 b1D+

28.Sf1?? Nach einer aufregenden Partie patzt Anand. Das ursprünglich von dem Inder beabsichtigte 28.Lf1 sollte zum Remis führen: Dd1! 29.Th4 Dh5! 30.Sxh5 gxh5 31.Txh5 Lf5 32.g6! (32.Lh3 Lg6 33.e6 Sxf6! 34.gxf6 Dxf6 bringt den nun verletzlicheren weißen König in Gefahr) Lxg6 33.Tg5 Da5 34.Tg3 Da3 35.h4 Kh8 36.h5 Le4 und weil keine Seite ihre Stellung verstärken kann, ziehen nur noch weißer Turm und schwarzer Läufer auf der g-Linie beziehungsweise Diagonalen umher, was ein Remis zur Folge hat. De1! Ein typischer Fall von Restabbild. Den Zug hatte Anand übersehen – als der Springer noch auf g3 stand, pariert De1 nicht den Turmzug nach h4. Jetzt tut er es aber. Bei Dd1?? 29.Th4 Dh5 30.Txh5 gxh5 31.Se3 Le6 32.Lxd5!! Lxd5 33.Sf5 Le6 34.Se7+ Dxe7 (Kh8 35.Dxf8 matt) 35.fxe7 Sg7 36.exf8D+ wäre das mutige Spiel des Inders gekrönt worden. Weil nun aber nach Th4 einfach Dxh4 folgt, gab der „Tiger von Madras“ zum dritten Mal in diesem WM-Match auf. 0:1.

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