(Patrick Karcher) Die Titelfrage des letzten DWZ-Plus war, ob Material alles ist. Die Antwort lautet “Nein”, denn neben der rein materiellen Ebene, ist auch die Bauern- und Figurenkonstellation entscheidend. Eine starke Aufstellung der Figuren bei der die gegnerischen Figuren stark eingeschränkt werden, egalisiert je nach Situation den Wert eines Bauern oder gar einer Figur. Die Stellungsqualität in Zahlen zu fassen, fällt jedoch wesentlich schwerer, als dies beim Abzählen der Materialwerte der Fall ist. Die Kunst starker Spieler ist es die Stellungsqualität mit mit Bravour zu beherrschen. Um sich in der Beurteilung der Stellungsqualität zu üben, kann es helfen auch diese in Werte zu fassen. Beispielsweise können Sie für die Herrschaft über eine offene Linie 0,75 Punkte (für den Turm), für die lange Diagonale 0,5 Punkte (für den Läufer), Springervorposten 0,75 Punkte, geschwächte Königsstellung 0,0 – 1000 Punkte, gegnerische Bauernschwächen 0,5 Punkte, schwache Felder im Lager des Gegners 0,5 Punkte, zerstörtes Rochaderecht 0,75 Punkte fiktive Werte gutschreiben. Ziel der Übung ist das Jonglieren mit Zahlen und zwar zwischen den Dimensionen Material und Stellungsqualität. So wie es für viele Spieler klar ist einen Qualitätsgewinn (Turm für Leichtfigur) mit 2 Punkten zu verbuchen, können Sie das auch für die Stellungsqualität handhaben. Wie würden Sie in folgendem Szenario entscheiden? Ihr Bauer ist angegriffen. Um den Bauern zu decken (+1 Punkt), müssen Sie ihren Turm von einer offenen Linie abziehen (-0,75 Punkte), zeitgleich erhält ihr Gegner in diesem Fall für seinen Springer Zugang zu einem Vorposten (-0,75 Punkte). Hier würden Sie den Bauern besser aufgeben, da dies zwar den Materialwert eines Bauern kostet; dafür sparen sie 1,5 Punkte in ihrer Stellungsqualität ein. Die meisten renomierten Schachmeister werden ein derartig starres Bewertungssystem vermutlich ablehnen. Die konkrete Hilfe für den Schachspieler besteht auch nicht in einer exakt berechenbaren Positionsbeurteilung, sondern in einer Hilfestellung bei der Bewertung einer Stellung nach positionellen Merkmalen. Darüberhinaus erlaubt das Denkmodell von seinen bekannten Denkmustern abzuweichen. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der eigenen Spielstärke. Ersetzen Sie ihr Nachdenken wie sie eine Figur decken beispielsweise durch die Frage wie Sie einen Gegenangriff starten.