Von Patrick Karcher
Was ist gemeint, wenn man einem Schachspieler ein hohes Schachverständnis zugesteht? Lassen Sie uns zur Beantwortung der Frage mit dem Thema „Wissen“ beginnen. Ohne das Wissen um die Schachregeln, können Sie keine Schachpartie begehen – das sollte sich von selbst „verstehen“. Schachanfängern wird auf Basis der Schachregeln dann meist Grundwissen vermittelt: Was ist das Zentrum, wieso ist der Kampf um selbiges wichtig, wie führt man einen Angriff gegen den gegnerischen König, wie behandelt man Bauernendspiele, etc. Das Lernziel ist es ein Grundwissen aufzubauen, das einem die Entscheidungsfindung während der Partie erleichtern soll – ein schachliches 1×1 quasi. Doch was ist dann Schachverständnis? Führen wir den Vergleich mit der Mathematik.
Grundschülern wird beigebracht: 8 + 8 = 16. Das Wissen wird den Schülern vermittelt und diese üben das Wissen ein, solange bis es ihnen in Routine übergeht. Sitzen diese einfachsten Inhalte, kann zu etwas komplexeren Aufgaben übergegangen werden. Auch die Aufgabe 8 + 8 + 8 + 8 + 8 = 40 kann irgendwann bewältigt werden. Doch das Aufsummieren einzelner Zahlen ist sehr mühsam, deshalb wird den Kleinen die Multiplikation vermittelt. Die Schüler lernen 8 + 8 + 8 + 8 + 8 = 5 x 8 =40. Für den Schritt von der Addition der Zahlen zur Multiplikation ist ein gewisses „Verständnis“ notwendig. Dabei wird aus dem einfachen Wissen über die Addition, das etwas komplexere Wissen über die Multiplikation.
Veranschaulichen wir uns diesen Mix aus „Wissen“ und „Verständnis“ an einem schachlichen Beispiel. In der folgenden Partie hat Weiss den Bauernzug nach a3 gespielt, um den Vorstoss b4 vorzubereiten. Ist die Erwiderung mit dem Vorstoss des schwarzen a-Bauern nach a4 nun stark?

Manch` Spieler mag zur Beantwortung dieser Frage auf sein diffuses Halbwissen zurückgreifen:

  1. In dieser Eröffnung, steht der Bauer auf a4 gut, glaube ich jedenfalls, bin mir aber nicht sicher.
  2. Ich kenne Partien, in denen dieser Bauer verloren ging.
  3. Ich kenne allerdings auch Partien in denen der Bauer Vorteil einbrachte.

=> Und nun?

Eine andere Möglichkeit ist es sich mit schachlichem Denken, der Problemstellung zu nähern. Das ist ein guter Mix aus „Wissen“ und „Verständnis“. Dieser Entscheidungsprozess könnte wie folgt ablaufen:

  1. Wissen: Der Bauer a4 schränkt den Bauern b2 vorteilhaft ein.
  2. Verständnis: Ein weiterer Pluspunkt ist, dass der Bauer c4 nun zur Schwäche neigt, da dieser nicht mehr ohne weiteres durch den b-Bauern gedeckt werden kann.
  3. Verständnis: Die Deckung des c-Bauern mittels b3 gibt Schwarz die Option zu axb3.
  4. Verständnis: Die entstehende Struktur nach dem Abtausch des a-Bauern gegen den b-Bauern (= axb3) sollte Schwarz begünstigen, da Weiss einen isolierten a-Bauern erhält, während die schwarze Bauernstruktur sauber verbunden bleibt. Die Schwäche des c-Bauern bleibt ebenfalls erhalten.
  5. Wissen: Der Nachteil des Bauern a4 ist, dass dieser nun selbst blockiert steht, getrennt von seinem Nachbarbauern b7.
  6. Verständnis: Der Turm a8 deckt den Bauern a4 jedoch, wenn auch nur einfach.
  7. Verständnis: Der Bauer a4 könnte deshalb zum Angriffsobjekt werden. Also muss ich prüfen, ob dieser bei diversen Angriffsmanövern verloren gehen könnte
  8. Wissen: Die weisse Dame braucht nach a4 nur zwei Züge, der Sf3 braucht nach allerdings a4 mindestens vier Züge
  9. Verständnis: Der Läufer g2 kann den Bauern a4 ohne weiteres nicht angreifen, ähnlich sieht es mit den weissen Türmen aus.

Im Partiebeispiel experimentiert Weiss mit dem Angriffsvorhaben gegen den Bauern a4 und muss feststellen, dass der Plan sehr lange dauert. Dabei schafft es Schwarz nicht nur den Bauern a4 ausreichend zu decken, sondern zugleich seine Stellung deutlich zu verstärken. Weiss hat bei diesem misslungen Versuch dazugelerrnt – und zwar an Verständnis wie ein derartiges Angriffsmanöver in einer derartigen Stellung einzuschätzen ist.
Schlusswort: Was für einen Spieler „Wissen“ ist, mag für den anderen „Schachverständnis“ sein. Wichtiger jedoch als die Begrifflichkeiten, ist es diesen Prozess der Abwägung von Vor- und Nachteilen zu „verstehen“. Oder sollte ich davon sprechen zu „wissen“, dass es diesen Prozess der Abwägung überhaupt gibt?