Karjakin – Carlsen: Schwarz nimmt – bei erstbester Gelegenheit – den gegnerischen Monarchen ins Visier

Peter Heine Nielsen sekundiert künftig Kronprinz Carlsen – dreht bei der WM gegen alten Chef Anand aber „keine krummen Dinger“
Von Hartmut Metz
Die Bibel der Schach-Eröffnungen, der „Informator“, hat Peter Heine Nielsen schon mehrfach den Preis für die beste neue Idee verliehen. Was der Däne aber aus den ersonnenen brillanten Eröffnungszügen am Turnierbrett dann selbst macht, frustriert den Weltranglisten-87. zuweilen ziemlich. Mit ein Grund, warum Nielsen dem Inder Viswanathan Anand als Sekundant diente und jetzt zum Norweger Magnus Carlsen wechselte! „Sie vollstrecken ganz anders als ich. Ihre Verwertung meiner Ideen macht Freude“, gesteht der 39-Jährige unumwunden. Die Rochade vom Weltmeister zum Weltranglistenersten hat in der Szene wie eine Bombe eingeschlagen – im Prinzip ist es, als wechselte Jupp Heynckes vor dem Champions-League-Finale von Bayern München zu Borussia Dortmund. Zwar gilt der 22-jährige Carlsen schon lange als Kronprinz von Anand. Der „Transfer“ des umworbenen Eröffnungsexperten wurde aber dadurch besonders pikant, dass sich Nielsens neuer Schützling für den WM-Zweikampf im November qualifizierte. Umgehend witterte mancher Ränke: Der „Tiger von Madras“ würde nun schon allein deshalb in seiner Heimatstadt den Kürzeren ziehen, weil Nielsen alle Eröffnungsgeheimnisse ausplaudert.
Doch der Däne denkt nicht im Traum daran, den Judas zu spielen. „Bei der WM bin ich völlig neutral!“, sieht sich der Großmeister in keiner Zwickmühle, „ich kenne so viele Geheimnisse von ,Vishy’ – das geht überhaupt nicht, dass ich plötzlich gegen ihn antrete. Ich bin mit beiden befreundet und hatte mit ,Vishy’ über viele Jahre hinweg eine tolle Zeit, da kann ich jetzt keine krummen Dinger drehen. Ich habe es hinbekommen, nicht mehr für ihn zu arbeiten – aber gegen ihn zu arbeiten, das schaffe ich nicht!“

Ein ausführliches Interview mit Nielsen zu seiner Rochade vom Weltmeister zum Herausforderer findet sich in der aktuellen Ausgabe des Schach-Magazins 64.

Nielsen hält sich auch gerade beim Turnier im norwegischen Stavanger im Abseits, wo seine beiden Mannschaftskameraden beim deutschen Meister OSG Baden-Baden im Einsatz sind. Nach drei Siegen in Folge rückte Carlsen auf 5:2 Punkte vor. Anand (4:3) ist als Dritter zwei Runden vor Schluss bereits abgeschlagen. Der Wahl-Russe Sergej Karjakin trumpft bis dato groß auf: Der gebürtige Ukrainer führt mit 5,5:1,5 Punkten vor Carlsen, obwohl er diesem im direkten Duell unterlag. Das Prestige-Duell zwischen dem norwegischen Jungstar und dem Weltmeister endete friedlich mit einem Remis. Nielsen hielt sich davon fern – anstatt um die weißen und schwarzen Dame auf dem Brett kümmert er sich lieber in Litauen um die seines Herzens, die Weltklasse-Großmeisterin Viktorija Cmilyte.
Untätig bleibt er in Palanga nicht und kann an der baltischen Küste an neuen Abspielen feilen: Allein oder bei Trainingslagern sitzen die Sekundanten vor dem Computer und prüfen mit den Schachprogrammen spielbar scheinende Eröffnungen und sich daraus ergebende Varianten über zehn und mehr Züge tagelang aus. Programme wie „Houdini“ oder die deutschen „Fritz“ und „Shredder“ sind mittlerweile alle viel stärker als die Großmeister. „Wir überlegen, was für ein Repertoire wir aufbauen und wie wir die Varianten-Pipeline füllen“, beschreibt Nielsen die Tüftelei, um den Gegner mit dem eigenen Repertoire nach 15 oder mehr Zügen Eröffnungstheorie möglichst auf dem falschen Fuß zu erwischen.
Der sei aber im Vergleich zur Post-PC-Zeit, als etwa in der Sowjetunion ganze Horden für den Weltmeister analysierten, heutzutage minimal. Allein der Weltranglistendritte Wladimir Kramnik hole noch „das Maximale aus der Eröffnung heraus“ und dient Nielsen als Vorbild. Die Aufgabe bei seinem neuen Schützling scheint für den Dänen relativ leicht: „Es ist klar, dass die Eröffnung nicht zu den Stärken von Magnus zählt. Er spielt aber danach grandios!“ Weil Carlsens Spielstärkezahl deshalb bereits jetzt weit höher als die der Anderen ist, müsse die Vorstellung für die Konkurrenten „natürlich gruselig sein“, dass der 22-Jährige die Schwächen dank Nielsen auch in der Anfangsphase der Partie ausmerzt.
Der dänische Sekundant nutzte „die Chance zum Wechsel“, um mit einem weiteren „außergewöhnlichen Spieler“ zusammenzuarbeiten. Ein bisschen denkt der 39-Jährige aber auch daran, sich bis zur Rente abzusichern – Carlsen könnte das Schach auf Jahrzehnte dominieren. „Aber erst muss er wie ,Vishy’ viermal Weltmeister werden!“, unterstreicht Nielsen und schließt mit Blick auf das WM-Match im November mit einer neutralen Prognose: „Der Bessere meiner Freunde möge gewinnen!“
In der nachfolgenden Partie in Stavanger machte Carlsen mit seinem Sieg über den fulminant gestarteten Karjakin das Turnier wieder spannend.

GM Peter Heine Nielsen

W: Karjakin S: Carlsen
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 8.c3 0–0 9.h3 Sb8 10.d4 Sbd7 11.Sbd2 Lb7 12.Lc2 Te8 13.a4 Lf8 14.Ld3 c6 15.Dc2 Tc8 16.axb5 axb5 17.b4 Dc7 Carlsen spielt den ersten neuen Zug. g6 18.Lb2 Sh5 geschah anno 1990 zwischen Nigel Short und Lajos Portisch (Wijk aan Zee). 18.Lb2 Ta8 19.Tad1 Sb6?! g6 gefällt Programmen besser. h6 ist eine andere Möglichkeit, um das Feld g5 den weißen Figuren zu nehmen. 20.c4! Weiß setzt dennoch den Vorstoß durch und öffnet die Stellung. bxc4 21.Sxc4 Sxc4 22.Lxc4 h6 Verhindert den Springerausfall nach g5 mit Druck auf f7. exd4?! 23.Lxd4 Sxe4? führt in den Verlust: 24.Ld5! Sf6 25.Sg5!!+– und die Drohungen gegen f7 und h7 sind nicht mehr alle zu parieren. 23.dxe5 dxe5 24.Lc3 La6 25.Lb3! Karjakin will natürlich den Läufer, der schön auf f7 drückt, behalten. c5! 26.Db2! Nimmt den wunden Punkt e5 ins Visier. c4 cxb4? erweist sich als unangenehm: 27.Lxe5 Dc6 bringt Schwarz in die Bredouille: 28.Tc1 Db6 29.Lc7 Db5 30.Se5 Te7 31.Ld6 Tea7 32.Sxf7 Txf7 33.Lxf7+ Kxf7 34.Db3+ Kg6 35.Tc7 Sd7 36.e5 Kh7 37.Df7 Td8 38.Lxf8 Txf8 39.Dxd7. Das gilt ebenso für Db6 28.Ld4! Lc5 – oder Dd8 29.Se5 – 29.Lxc5 Dxc5 30.e5! Sh7 31.Ld5 Tad8 32.Db3 Tf8 (De7 33.Lxf7+ Dxf7 34.e6 De7 35.Td7 Dc5 – oder Txd7 36.exd7+ – 36.e7+) 33.Lxf7+ Txf7 34.Txd8+. 27.La4 Te6 28.Sxe5! Sehr stark von Karjakin gespielt! Lb7 29.Lc2? Die erste Ungenauigkeit des Ukrainers. 29.Lb5! hätte den Vorteil ausgebaut. La6 30.Ld7 Tb6 31.b5 Lxb5 32.Lxb5 Tab8 33.La5 c3 34.Da2 Dxe5 35.Lxb6 Txb6 36.Lc4. Tae8! 30.f4 Die einzige Fortsetzung, um die Stellung wenigstens ausgeglichen zu halten. Ld6 31.Kh2? Der Zug sieht seltsam aus, da sich der König freiwillig in die Diagonale des Läufers und der Dame begibt. Sh5! 32.g3 Weiß scheint alles noch zusammenhalten zu können, aber: f6! 33.Sg6 Sxf4!! 34.Txd6! Im Falle von 34.gxf4 Lxf4+ 35.Sxf4 Dxf4+ 36.Kh1 Df3+ 37.Kh2 Df2+ 38.Kh1 Dg3! 39.Lb1 (39.Te2 Txe4 erlaubt ebenso) folgt Txe4! 40.Txe4 Txe4! 41.Dg2 Te1+ 42.Txe1 Dxg2 matt. Sxg6 35.Txe6 Txe6 Weiß verfügt zwar über das Läuferpaar, was normalerweise einen kleinen Vorteil bedeutet – hier überwiegt jedoch der Nachteil, dass der weiße König ziemlich luftig steht. 36.Ld4?! 36.Lb1 macht der Dame den Weg frei auf der zweiten Reihe. f5! Carlsen öffnet energisch die Stellung rund um den feindlichen Monarchen. 37.e5? 37.Dc3 fxe4 38.Lb3 Ld5 39.Ld1 (39.Tc1? kostet eine Figur. e3 40.Lxe3 De5 41.Lxc4 Lxc4 42.Dxc4 Dxe3) Se5 gibt dem Nachziehenden gute Chancen. Sxe5! Bloß nicht Dc6?? 38.Lxf5 Txe5 39.Lxe5 Sxe5 40.Le4 Sf3+ 41.Lxf3 Dxf3 42.De2 mit Gewinn. 38.Lxe5 Dc6 39.Tg1? 39.Le4! vermag als einziger Zug den Angriff noch aufzuhalten. fxe4 40.Te3 mit Blockade der langen Diagonale. 39.Lxf5? Txe5! und Weiß darf nicht auf e5 zurücknehmen wegen der Mattideen auf g2 und h1. Dd5 Droht ein vernichtendes Schach auf d2 wie das Nehmen auf e5. 40.Lxf5 Txe5 41.Lg4 h5! 42.Ld1 42.Td1 gestattet laut Carlsen den hübschen Schluss Dxd1! 43.Lxd1 Te1 44.g4 h4! und das umgehende Matt hält nur noch 45.Dg2 Lxg2 46.Kxg2 Txd1 auf. c3 43.Df2 Oder 43.Db3 Te2+! 44.Lxe2 Dxb3 beziehungsweise 43.Dxc3 Da2+! Tf5 44.De3 Df7 Einen letzten Paukenschlag setzt Dd3! 45.Lb3+ Kf8!–+ 46.Dxd3 Tf2+ 47.Tg2 Txg2+ 48.Kh1 Txg3+ 49.Kh2 Txd3. 45.g4 Te5 Dc7+ 46.Tg3 Dc6 47.Tg1 c2 48.Db3+ Kh8 49.Dxc2 Dd6+ 50.Tg3 h4 51.Dxf5 Dxg3 matt. 46.Dd4 Dc7! Karjakin gab auf wegen 47.Lb3+ Kh8 48.Kg3 Te4+ 49.Kh4 De7+ 50.Kxh5 Txd4. 0:1.

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