Bobby Fischer wurde so alt, wie das Schachbrett Felder hat: 64

Exzentrischer Bobby Fischer gewann vor 40 Jahren im Alleingang den „Kampf des Jahrhunderts“ gegen die Sowjetunion / Faszinierende neue Biographie
Von Hartmut Metz
Der Triumph war perfekt, die Tragödie begann. Am 1. September 1972 gab Boris Spasski die tags zuvor abgebrochene Hängepartie im 41. Zug auf: Bobby Fischer hatte im „Kampf des Jahrhunderts“ die geballte Sowjetmacht im Alleingang geschlagen. Weder vorher noch nachher zog Schach die Welt so in ihren Bann wie vor 40 Jahren. Der Amerikaner entthronte in Reykjavik Titelverteidiger Spasski mit 12,5:8,5. Der Einzelgänger aus dem Land des Kapitalismus hatte in einem Stellvertreterkrieg mit 16 Figuren die Kommunisten in deren Staatssport blamiert, bei dem die UdSSR die geistige Überlegenheit des Proletariats zu beweisen gedachte. US-Präsident Richard Nixon lud den neuen Helden ins Weiße Haus ein – doch Fischer kam nicht. Nicht das erste Mal, dass der Exzentriker jemand vor den Kopf stieß. Weil auf Island seine Forderungen nach seiner Auftaktniederlage („Die Kameras sind zu laut und müssen weg“) nicht alle erfüllt wurden, verlor der Amerikaner die zweite Partie kampflos. Schiedsrichter Lothar Schmid konnte nur mit Mühe den Abbruch der WM verhindern und drückte die beiden Kontrahenten in einer Nebenkammer in die Stühle: „Spielt jetzt!“, forderte der 84-jährige Großmeister und Bamberger Karl-May-Verleger die Protagonisten 1972 auf. Spasski zog, Fischer verkürzte auf 1:2, siegte nach 21 Partien – und beendete abrupt seine steile Karriere. Immer wieder stieß der Sohn des deutschstämmigen Hans Gerhardt Fischer und der Schweizerin Regina Wender andere vor den Kopf, nervte mit immer neuen Forderungen und entwickelte hanebüchene Verschwörungstheorien, die trotz jüdischer Vorfahren in Antisemitismus gipfelten. Bezeichnend für den angeblichen Gerechtigkeitsfanatiker sind die Telegramme, die das Fürstentum Monaco an den US-Schachverband schickte: „Laden zwei Großmeister ein – einer davon Fischer!“ hieß es 1967. Im Jahr darauf fügten die Monegassen nur einen Buchstaben hinzu: „Laden zwei Großmeister ein – keiner davon Fischer!“
Die Schachwelt lag ihm dennoch zu Füßen. Remis-Absprachen wie unter den verhassten Sowjets verabscheute der damals jüngste Großmeister aller Zeiten, gnadenlos spielte er immer auf Gewinn. Das machte ihn auch endgültig zur Legende, als er auf dem Weg zum WM-Finale unvorstellbare 19 Partien in Folge gewann. Zahllose Schachautoren beschäftigen sich bis heute mit dem Phänomen. Doch kaum einer hat über Fischer so trefflich geschrieben wie Frank Brady. Er kannte ihn seit jungen Jahren. Seine Biographie geriet entsprechend tiefgründig und mitreißend, selbst für Nicht-Schachspieler. Allein schon der doppeldeutige Titel „Endspiel“ gefällt: So wird die Endphase im Schach genannt, könnte aber auch das tragische Ende des verfolgten Genies meinen.
Das neueste Werk des Biographen von Schauspielerin Barbra Streisand, der griechischen Reeder-Legende Aristoteles Onassis und „Playboy“-Gründer Hugh Hefner schoss 2011 in die US-Bestsellerlisten. „,Endspiel’ ist hervorragend geschrieben, gewissenhaft recherchiert und voll von faszinierenden Details“, pries das „Wall Street Journal“ zurecht. Der Riva-Verlag bietet den 480 Seiten starken Schach-Krimi (22 Euro) inzwischen auch auf Deutsch an.
Vor der Titelverteidigung gegen den Russen Anatoli Karpow pochte Fischer auf einen 179 Punkte umfassenden Forderungskatalog. Dem kompromisslosen Weltmeister wurde deshalb 1975 der Titel aberkannt. Erst eine Millionen-Offerte lockte ihn während des Jugoslawien-Kriegs wieder 1992 gegen Spasski ans Brett. Der Sieg elektrisierte die Fans einmal mehr, die Revanche machte Fischer aber wegen des Embargos noch einsamer. Weil er vor dem ersten Zug auf ein Schreiben spuckte, das ihm das Duell verbot, verfolgten ihn die US-Behörden erbarmungslos. In Japan wurde der Flüchtende gar inhaftiert. Island gewährte dem gefallenen Helden aus Dankbarkeit Asyl.
Laut Brady war der einsame Wolf vor seinem Tod 2008 zu einer späten Erkenntnis gelangt: „Im Spiel des Lebens bin ich solch ein Versager!“ Bobby Fischer wurde so alt, wie das Schachbrett Felder hat: 64.
Nachstehend die letzte WM-Partie Fischers, die Spasski heute vor 40 Jahren aufgab.

Spasski gab die Hängepartie auf. Schwarz am Zug behält in mehreren Abspielen die Oberhand.

W: Spasski S: Fischer
1.e4 c5 2.Sf3 e6!? Der Zug ist insofern bemerkenswert, als dass Fischer erstmals von seiner Sizilianisch-Lieblingsfortsetzung 2.d6 abweicht! 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6 5.Sc3 Sc6 6.Le3 Sf6 7.Ld3 d5 8.exd5 exd5 9.0–0 Ld6 10.Sxc6?! Das verspricht Weiß nichts, der damit in eine harmlose Schottisch-Variante überleitet. 10.h3 gab man schon 1972 den Vorzug. bxc6 11.Ld4 0–0 12.Df3 12.Te1 führt zum Ausgleich. Le6 13.Tfe1 c5 14.Lxf6?! 14.Le5 verzichtet zwar darauf, dem Gegner einen isolierten Doppelbauern zu verpassen, tauscht aber auch den Läufer auf d6 ab. Dxf6 15.Dxf6 gxf6 16.Tad1 Tfd8 17.Le2 Tab8 Schwarz steht dank des Läuferpaars und der Türme, die mehr Möglichkeiten haben (etwa auf der halboffenen b-Linie), etwas besser. 18.b3 c4! Damit deckt Fischer nicht nur den a6–Bauern und greift die weißen Bauern an! Vor allem wird dadurch der Läufer auf d6 aktiviert, der gleich gen b4 zu marschieren droht. 19.Sxd5 Mit dem damit verbundenen Qualitätsopfer will Spasski wenigstens ins Remis entwischen. Doch es ist ein weiteres Qualitätsopfer zu viel in diesem Match. Mehrfach verlor Spasski nach Preisgabe eines Turms für eine Figur – so auch diesmal! 19.Sa4 erweist sich als unersprießlich: Lf5 20.c3 (20.Txd5?! Lxh2+ 21.Kxh2 Txd5) Lc2 21.Td2 (21.Td4!? ist zäher, verliert aber letztlich genauso: Le5 22.Tg4+ Kh8 23.Tc1 cxb3 24.axb3 Lxb3 25.Sc5 a5 26.Sxb3 Txb3 27.c4 Tb2 28.Lf1 Tb4) cxb3 22.axb3 Lxb3 23.Sb2 Le5 und Weiß kann aufgeben. 19.bxc4? Lb4 20.Sxd5 Lxe1 21.Txe1 Tb2 22.Tc1 Kg7 bringt Weiß noch mehr in die Bredouille. Möglich war auch ein anderes Qualitätsopfer: 19.Lf1 d4 20.Se4 Lb4 21.Sxf6+ Kg7 22.Txe6 fxe6 23.Se4 cxb3 24.axb3 Tb6 25.Td3 e5 26.Tf3 h6 27.Ld3 mit guten Remischancen. Lxd5 20.Txd5 Lxh2+ 21.Kxh2 Txd5 22.Lxc4 Td2 23.Lxa6? Verständlicherweise davon beseelt, die Bauern alle am Damenflügel abzuräumen und dort mit zwei verbundenen Bauern vielleicht irgendwie Gewinnchancen zu bekommen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Stärker ist 23.Ld3 Txf2 (Kg7 dürfte besser sein) 24.Td1! Tf4 (a5?? 25.Kg3 mit Turmfang; 24…Tc8 25.Kg3 Tcxc2 26.Lxc2 Txc2 27.a4 Tc3+ 28.Kf2 Txb3 29.Td6 a5 30.Td5 mit Remis) 25.Kg3 Tfb4 26.Lxa6 Ta8 27.Td6 und Weiß hat nichts zu befürchten. Txc2 24.Te2 Txe2 Tbc8 kommt eher Spasski entgegen. 25.a4! Txe2 26.Lxe2 Tc2 27.Lc4 Txf2? (Ta2 führt zur Partiestellung) 28.a5! Ta2 29.a6 und auf einmal gewinnt fast Weiß! Kf8 30.b4 Ta4 31.b5! Txc4 32.a7 Ta4 33.b6 Kg7 34.b7 Txa7 35.b8D Ta5! und dank einer Festung hält Schwarz noch gerade so die Stellung. Der Turm pendelt nur noch auf den Feldern g5 und e5, so dass der weiße König nicht im Verbund mit der Dame dem schwarzen König zusetzen kann. 25.Lxe2 Td8 26.a4 Td2 27.Lc4 Ta2 28.Kg3 Kf8 29.Kf3 Ke7 30.g4? Jan Timman hielt 30.Kg3 nebst 31.f4 für ausreichend, um einen halben Punkt zu retten. f5! Schwarz löst den Doppelbauern auf und verwirklicht vor allem ein Ziel: Der h-Bauer wird zum Freibauern. 31.gxf5 31.g5 bringt nichts wegen f6. f6 32.Lg8 h6 33.Kg3 Kd6 34.Kf3? Fischers Nachfolger als Weltmeister, Anatoli Karpow, hielt 34.f4 für stärker. Ta1! 35.Kg2 Bei 35.Lc4 Ke5 36.Le6 Tg1 wird der h-Bauer zur Macht, der gen Umwandlungsfeld h1 zu marschieren gedenkt. 37.a5 Weiß darf nicht zögern, um den Turm wieder von der g-Linie zu vertreiben. h5 38.a6 Kd6 39.a7 Ta1 40.Lf7 h4 41.Kg4 Txa7 42.Lg6 Ta2 43.Kxh4 Txf2 44.Kg4 Ke5 45.Kg3 Tb2 und Schwarz gewinnt. Ke5 36.Le6 Kf4 37.Ld7 Tb1 38.Le6 Tb2 39.Lc4 Ta2 40.Le6 h5 41.Ld7 Spasski gab die Hängepartie auf. Schwarz behält in mehreren Abspielen die Oberhand. 41.Kh3 hätte auch nichts mehr gerettet. Der ehemalige Fernschach-Weltmeister Cecil Purdy analysierte nach dem Königszug: Txf2 42.a5 h4! 43.a6 Kg5 44.Ld5 Ta2 45.Lb7 Ta3 46.Kg2 Kxf5 47.b4 Kg4 48.b5 h3+ 49.Kf2 h2 50.b6 Txa6! und die weißen Bauern fallen. Auch 41.Ld7 verliert: Kg4 Mit der Absicht, den h-Bauern endlich zu mobilisieren. 42.b4 h4 43.a5 h3+ 44.Kg1 Ta1+ 45.Kh2 Tf1 46.f3+ Txf3 47.a6 Tf2+ 48.Kh1 h2 49.a7 Kg3 50.Lb5 Tg2 51.a8D Tg1 matt. 0:1.

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