Krämer-Witiugow: “Schwarz steht im Hemd” – und gab nach dem nächsten weißen Zug auf!

Martin Krämer verschmerzt bei Forschungsprojekt verspätetes Narrenmatt / EU fördert Hilfsprojekt für Gelähmte
Von Hartmut Metz
„Martin, das war keine großmeisterliche Eröffnung“, musste sich Martin Krämer anhören. Dabei verlief die Partie für den Berliner Großmeister noch glimpflich. Nach den Zügen 1.f3 d5 2.b4 e5 3.Sh3 Lxh3 wurde das Duell abgebrochen, bevor Weiß im Falle von 4.gxh3 Dh4 eine leicht verspätete Version des Narrenmatts kassiert hätte. Doch bei der „Langen Nacht der Wissenschaften“ an der Technischen Universität (TU) Berlin ging es nicht vorrangig um den schachlichen Gehalt. Krämer, der wenige Wochen zuvor in der Bundesliga gegen Legende Anatoli Karpow remisiert hatte, war froh, dass „ich überhaupt ein paar Züge aufs Brett bekam“! Die Figuren rührte er nämlich nicht mit den Händen an, sondern wurden bei dem Experiment allein durch seine bloßen Gedanken auf dem PC gesteuert! Die Forschungs-gruppe um Prof. Klaus-Robert Müller und Michael Tangermann betreibt an der TU Grundlagenforschung, die Bewegungsunfähigen in Zukunft das schwere Leben erleichtern soll. „Schach wurde dabei ausgewählt, weil es die meisten kognitiven Fähigkeiten abverlangt“, berichtet Krämer. Als angehender Wirtschaftsmathematiker im achten Semester wurde er eher zufällig zum Versuchskaninchen. „Die TU fragte beim Vorsitzenden meiner SF Berlin, Jörg Schulz, nach, ob wir einen TU-Studenten hätten, der daran teilnehmen wolle. Er verwies dann auf mich“, erzählt der 24-Jährige, wie er zu dem Projekt stieß. Ein starker Schachspieler dürfte für die Versuche auch mehr geeignet sein als andere. „Man muss viel Ruhe bewahren. Wenn man auf die Zähne beißt, kann das schon zu starken Ausschlägen führen“, stellte Krämer bereits während der Kalibrierung fest. Über Elektroden wurden dabei die Hirnsignale gemessen. Die enorm lernfähige Technologie namens Brain-Computer-Interface (BCI) brauchte dabei keine zehn Minuten, um das Elektroenzephalogramm (EEG) des Spielers anzulegen. TOBI (Tools for Brain-Computer Interaction) funktioniert dabei anders als alte Systeme: „Zur Steuerung des BCI-Schachspiels betrachtet der Spieler ,visuell aufmerksam’ das Feld, das er auswählen möchte, zum Beispiel das Zielfeld des aktuellen Zugs“, führt Tangermann aus und betont, „die Augenbewegungen werden von unserem System dabei nicht ausgewertet – ganz im Gegensatz zu einer Steuerung etwa mit einem ,Eye-Tracker’.“ Letztlich wird die „Hirnaktivität zum Steuerungselement“, ergänzt Tangermann, denn schwer gelähmte Nutzer haben häufig auch keine Blickrichtungskontrolle mehr.
In der Praxis erleichterte es die Aufgabe, dass bei Krämer diese Blickrichtungskontrolle normal ist. BCI erzielt somit eine höhere Trefferquote. „Mir wurden ein paar Schachstellungen gezeigt. Ich bekomme einen Zug vorgegeben und konzentriere mich darauf. Bei der Kalibrierung werden Vergleichsdaten ermittelt. Ein Spieler mit rund 2200 Elo im Forschungs-Team suchte normale Stellungen raus, damit ich nicht abgelenkt werde durch unsinnige Positionsbilder“, erzählt Krämer. So kamen leichte Mattaufgaben in zwei Zügen aufs Brett. Zunächst wurde das Ausgangsfeld auf dem Monitor farblich gekennzeichnet, anschließend markierten die Wissenschaftler alle potenziellen Zielfelder der Figur. „Ich konzentrierte mich dabei erst auf das Ausgangsfeld, dann auf das Zielfeld und letztlich den Bestätigungs-Button“, berichtet Krämer.
Als das von der Europäischen Union (EU) geförderte Projekt dann bei der „Langen Nacht der Wissenschaften“ präsentiert wurde, stellte die „sensible Apparatur“ für den am Kopf verkabelten Großmeister eine besondere Herausforderung dar. „Wenn 400, 500 Leute zusehen, die Lichter leuchten und die Kameras laufen, ist das live natürlich noch schwieriger“, bekennt Krämer im Rückblick. Dass dabei seine schwächste Partie seit Kindesbeinen herauskam, quittiert der Berliner mit einem Grinsen. Wichtig ist ihm: „Wenn Störsignale noch besser ausgeblendet werden können, hilft das eines schönen Tages Gelähmten. Von der EU hat das Projekt beste Noten erhalten.“ Und eventuell bekommt der Student demnächst in Nürnberg die Gelegenheit, bei einer weiteren Live-Präsentation sein Können mit einer etwas großmeisterlicheren Eröffnung zu beweisen.
Darf Krämer seine Figuren selbst setzen, ist er auch zu mehr als einem Narrenmatt im Stande. In der Bundesliga bekam das der russische Weltklassespieler Nikita Witiugow 2011 im Duell Berlin gegen Wattenscheid zu spüren.

W: Krämer S: Witiugow
1.d4 g6 2.e4 Lg7 3.Sc3 c6 4.f4 d5 5.e5 Sh6 6.Sf3 Lg4 7.h3 Lxf3 8.Dxf3 f6 9.g4 fxe5 10.dxe5 Tf8 11.Dg3 Db6 Eine Neuerung. e6 12.Lg2 Sd7 13.0–0 g5 14.Dd3 gxf4 15.Dxh7 Dg5 16.Txf4 Txf4 17.Lxf4 Dxf4 18.Dxg7 0–0–0= führte bei der bulgarischen Meisterschaft in der Partie Dimitrow-Chatalbaschew (Tsarevo 2001) zu problemlosem Spiel für Schwarz. 12.Ld3 Sa6 13.Ld2 Sb4?! Sc5 macht einen flexibleren Eindruck, da der Springer hernach mehr Felder hat. 14.0–0–0 0–0–0 15.Le2! c5 16.Sa4 Dc6 17.Db3 a5 18.c3 c4 19.Da3 Sa6 Wenig erbaulich wirkt auch Sd3+ 20.Lxd3 cxd3 21.Dc5 Sf7 22.Dxc6+ bxc6 23.Sc5 und wegen der Drohung Se6 ist gleich der d3–Bauer weg. Tde8 24.Sxd3 g5 25.e6 Sd6 26.f5 Schwarz steht im Hemd. 20.Le3 e6 21.Sb6+ Kb8 22.Dxa5 Sf7 23.h4 Präzise von Krämer vorgetragen. Er verhindert ohne Hast den einzigen Gegenstoß, den Schwarz hat. Ansonsten könnte g5 den Bauern auf e5 untergraben. Tfe8 24.b4 Sc7 cxb3 25.Lb5 Dc7 26.axb3 ist genauso hoffnungslos. 25.Lf3 Tf8 26.Thf1 h5 27.a4 Lxe5 28.b5! 1:0. Schwarz gab auf wegen De8 29.Sxc4! Lxc3 (dxc4 30.Da7+ Kc8 31.Lxb7 matt) 30.La7+ Kc8 31.Sb6 matt.

Partie online nachspielen: