„Analysator“ Wolfgang Gerstner ein Wegbereiter des „Trompovsky-Angriffs“

Der 67er-Jahrgang ist vermutlich der beste, den der Schachbezirk Mittelbaden jemals gesehen hat. Die einstigen großen Jugend-Helden sind müde – werden dieses Jahr 50 und spielen nur noch gelegentlich Mannschaftskämpfe. Kurt Busch feierte bereits am 12. Januar seinen runden Geburtstag. Alexander Hatz wird am 4. Mai folgen. Das größte Talent aus dieser Reihe ist aber zweifellos Wolfgang Gerstner – und das nicht nur, weil er im legendärsten Zweikampf der 80er und 90er Jahre (noch vor dem WM-Dauerbrenner zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow) mit 5:4 führte. Dass der „Analysator“ dann, schändlich wie er war, gegen den „Praktikator“ das Duell abbrach, ist eine andere Geschichte …

„Analysator“ Wolfgang Gerstner ein Wegbereiter des „Trompovsky-Angriffs“

Jedenfalls begann Gerstner bei der Caissa Rastatt – einem der Rochade-Vorläufer-Vereine – mit dem königlichen Spiel. Schnell rückte er als B-Jugendmeister in Mittelbaden erstmals ins Rampenlicht. Seine Erfolge fußten bald auf sehr guter Kenntnis seiner Varianten – neben Sizilianisch gehörte mit Weiß vor allem der Trompovsky-Angriff zu seiner schärfsten Waffe. Während die meisten damals noch gleich auf f6 den Springer beseitigten, wenn sich die Gelegenheit zu einem Doppelbauern ergab, hatte Gerstner keine Furcht vor dem Konter Se4. Den Rappen vertrieb der Jüngling rasch wieder mit f3 und baute danach ein starkes weißes Zentrum auf. Das wurde häufig mörderisch – denn als gewitzter Taktiker überfuhr der Jubilar die Gegner reihenweise. Das bekamen auch zahlreiche Großmeister bis über 2600 Elo (das war damals Weltklasse) zu spüren. Von der hohen Kombinationskunst des teuflischen Taktik-Gotts zeugen die elf Partien, die die Rochade anlässlich seines runden Geburtstags aus den Datenbanken fischte.
„Tromp“ machte Gerstner zur Mode, weil er auch ein exzellentes Buch darüber im Schachverlag Dreier auflegte. Der Autor spielte Anfang der 90er Jahre in der Bundesliga für Sindelfingen. Der Caissa Rastatt und der Rochade Kuppenheim blieb er stets als Mitglied treu, auch wenn er später nach Hessen umzog und lange für die Karlsruher Schachfreunde in der Zweiten Liga und in der Oberliga ans Brett ging. Vor rund fünf Jahren begann der Familienvater jedoch zu pausieren. Seine Elo steht deshalb immer noch bei 2414. Die DWZ sank etwas auf 2346 – Blut leckte er bei einem Turnier in seinem neuen Heimatort, bei dem Gerstner 2014 mit 6/7 auftrumpfte.
„Tatsächlich bin ich beim SC Hattersheim wieder aktiv geworden, allerdings nur sehr eingeschränkt durch Familie und Beruf. Einige Mannschaftskämpfe kann ich spielen, und weil es eine recht sympathische Truppe ist, schiebe ich immer mal wieder ein Training ein“, berichtet der Mathematiker und ergänzt, „die Atmosphäre erinnert mich an die seligen Caissa-Zeiten, als man Verspätungen locker nahm, Kämpfe entspannt liefen und sich der Ehrgeiz in Grenzen hielt. Es fehlt der jugendliche Unterbau, aber das trifft ja viele.“
Selig waren auch die Zeiten ohne Vorbereitung. „Nach den ersten beiden Mannschaftskämpfen habe ich meine Herangehensweise umgestellt, denn natürlich bin ich für alle Gegner ein offenes Buch, und trotz der 6. Klasse (mit Spitzenbrettern zwischen 1850 und 2150 DWZ) erfolgt eine intensive Vorbereitung. Der erste hatte eine Woche lang an einer 17-zügigen Remisvariante gearbeitet, der nächste meine Partie gegen Aronjan im Detail studiert“, berichtet der gebürtige Rastatter. Und wenn er meint, dass er „zugegebenerweise nach fünfjähriger Schachabstinenz vor allem taktisch auch fürchterlich eingerostet“ sei, will das bei ihm nicht viel heißen … Humorvoll berichtet er von einer alten Liebe: „Den armen Hattersheimern versuche ich deshalb die Schönheit und Eleganz von Schwerfiguren-Endspielen schmackhaft zu machen.“ Damit traktierte „Wolferl“ bereits früher seine Kameraden …
Gerstner findet es „aber wirklich erschreckend, welchen Qualitätsverlust man ohne praktische Partie erleidet – so dass ich derzeit ein leichtes Opfer für den ,Praktikator’ wäre“, scherzt der Jubilar. Damit wollen wir auch auf den einzigen dunklen Fleck seiner Karriere zu sprechen kommen: Das Match zwischen „Analysator“ und „Praktikator“, das bei seiner 5:4-Führung vorzeitig endete. Die Medienmacht von Hartmut Metz, alias „Praktikator“, der ohne Vorbereitung einfach kraft seines Naturtalents dem bösen „Analysator“ Stand hielt, obwohl der in der sibirischen Taiga sich stählte und Blutsuppe schlürfte – und vor allem rund um die Uhr Varianten büffelte, um ja nicht zu verlieren. So wurde im legendären Rochade-Vereinsheft „Rochade-Express“ der Zweikampf stets mit einem Augenzwinkern aufbereitet. Alle Beteiligten hatten Spaß daran – und nach insgesamt 15 Partien steht es zwischen den Freunden Gerstner und Metz friedlich 7,5:7,5. „Aber keine Frage, Wolfgang ist das größere Talent. Er hätte Großmeister werden können, wenn er sich voll auf Schach konzentriert hätte – und das sage ich nicht nur, weil er jetzt Geburtstag hat!“, betont Metz. Zusammen mit seinen Rochade-Vereinskameraden gratuliert er von FM zu FM und wünscht dem „Analysator“ alles Gute zum runden Geburtstag und noch viele schöne Partien – wie die aus alten Zeiten mit prächtigen Mattkombinationen des „Analysators“.