„Garri’s choice“: “Weiß hat einen Mehrturm, und es sind keine Damen mehr auf dem Brett – aber der Läufer auf g7 ist Richter, Geschworener und Vollstrecker in einem“, jauchzt Kasparow (Schwarz am Zug)

Schach-Zar Kasparow hat mehr Freude an „Informator“ als an Putin
Von Hartmut Metz
Garri Kasparow hat auch nicht jeden mit Samthandschuhen angefasst, als er den Schachsport in den 80er und 90er Jahren dominierte. Ja, diktatorische Anwandlungen wurden dem impulsiven Russen oft unterstellt. Ausgerechnet er bekämpft nun als gewandelter Demokrat vehement den Alleinherrscher im Kreml: Wladimir Putin. Sein Engagement als furchtloser Oppositionspolitiker verdient Respekt.
Beim Urteil gegen die drei Mitglieder der Punk-Band Pussy Riots reihte sich der abgetretene Schach-Zar mutig in die Reihe der Protestanten ein. Sicherheits-kräfte schleppten Kasparow weg und behaupteten, der 49-Jährige habe einen Polizisten gebissen. Glück-licherweise bewiesen Fotos, dass der Polizist schon vorher an der Hand geblutet hatte – das Gericht konnte nicht anders und musste den Putin-Gegner aus der Haft entlassen und freisprechen. Die wohl schwerste Schlacht seines Lebens hat Kasparow damit aber noch nicht ausgestanden. Weit mehr Freude als die russische Politik bereitet ihm gewiss eine neue Liaison: Ganz kann der im März 2005 als Weltranglistenerster zurückgetretene Großmeister die Finger nicht vom Schach lassen. Von längerer Dauer als die Zusammenarbeit mit seinem Nachfolger Magnus Carlsen und dem Amerikaner Hikaru Nakamura dürfte die mit dem „Informator“ ausfallen. Der frühere Eröffnungs-Theoriegott kommentiert jetzt in jedem Band der Eröffnungsbibel eine von ihm ausgewählte Partie. Der neue Chefredakteur der legendären serbischen Publikation, Josip Asik, sprach Kasparow im richtigen Moment wegen einer Zusammenarbeit an: vor der 113. Ausgabe – schließlich ist der Meister nicht nur an einem 13. April geboren, sondern war auch 13. Weltmeister der Schach-Geschichte. Konnte er da Nein sagen, zumal er früher schon fleißig seine Partien für den „Informator“ kommentierte? Natürlich nicht. So bringt Kasparow wieder etwas alten Glanz zurück zu der bisher mehr als drei Millionen Mal verkauften Reihe.

In der aktuellen Ausgabe 114 wählte Kasparow für seine neue Kolumne „Garri’s choice“ ein Duell zweier Chinesen, Xiu Deschun und Wen Yang aus, die es nicht nur eröffnungstheoretisch in sich hat (Photo by Josip Asik)

W: Xiu S: Wen
1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.f3 0–0 6.Le3 e5 7.Sge2 c6 8.Dd2 Sbd7 Die Variante erinnert Kasparow an seinen vermutlich bekanntesten Königsindisch-Sieg über Anatoli Karpow 1993 in Linares. „Im 22. Zug standen alle seine Figuren wieder auf der Grundreihe“, verweist der Russe auf das erstaunliche Merkmal dieser Partie. 9.0–0–0 a6 10.Kb1 b5 11.c5 Da5 12.Dc2 d5! Einen „Schocker“ nennt Kasparow diese Neuerung. Schwarz peile damit mehr als Vereinfachung im Sinne der Punkteteilung an. 13.exd5 b4! Die im „Geiste“ der Neuerung richtige Fortsetzung nennt der Kommentator den Zug. Das Nehmen mit dem Springer auf d5 brächte hingegen nur Abtausch. 14.dxc6?! Eine erste Ungenauigkeit. 14.Se4 Sxd5 15.Lf2 führt zu einer komplizierten Stellung, weil der übliche schwarze Vorstoß b3? an dem überraschenden 17. Zug von Weiß scheitert: 16.Dxb3 Tb8 17.Le1!! Das vertreibt die schwarze Dame von ihrer aktiven Position. bxc3 15.cxd7? Kasparow zeigt sich verwundert, dass das bereits der entscheidende Fehler ist, aber das zweite Schlagen erweist sich in der Tat als fatal. Aufmerksamkeit schenkt der ehemalige Weltmeister unter anderem 15.d5 cxb2 16.cxd7 Lxd7 17.Sc3 Tfc8 18.Se4 (18.c6 Lxc6 19.dxc6 Txc6 20.Ld2 Tac8 ist leicht besser für Schwarz) Sxe4 19.fxe4 Lh6! (Das hält Kasparow für noch stärker als das auf der Hand liegende 19…La4 20.Dd2 Dd8) 20.Dd2 Dxd2 21.Lxd2 Lxd2 22.Txd2 Txc5 23.Txb2 f5 24.Le2 fxe4 25.Tc1 Tac8 26.Txc5 Txc5 27.Tb7 und die Stellung taxiert der 49-Jährige als ausgeglichen. Txd5?? verbietet sich nämlich wegen 28.Lc4 und Fesselung des Turms. Sd5!! Der Konter hat es Kasparow angetan, weil sich Schwarz nicht um den attackierten Läufer auf c8 kümmert. Obwohl Weiß über eine Figur mehr verfügt, sei die Partie praktisch entschieden. 16.dxc8D Tfxc8 17.De4? Tab8 18.Lc1 Txb2+! 19.Lxb2 Tb8 20.Ka1 Txb2 21.Sxc3 21.Dxd5 c2! 22.Tc1 Db4 23.Da8+ Lf8 rettet Weiß auch nicht. Dxc3 22.Dd3 exd4 Db4 23.Dc4 Sc3! 24.Ld3 e4! ergibt laut Computern ein Matt in 16 Zügen. 25.fxe4 erlaubt ein noch schnelleres Ende mit Lxd4 26.Le2 Txa2+ 27.Dxa2 Sxd1+ 28.Db2 Dxb2 matt. 23.Dxc3 dxc3 24.Txd5 Tb8! Zum Abschluss noch ein prosaischer Zug! Königsindisch-Guru Eduard Gufeld hätte für „diese Stellung gebetet: Weiß hat einen Mehrturm, und es sind keine Damen mehr auf dem Brett – aber der Läufer auf g7 ist Richter, Geschworener und Vollstrecker in einem“, jauchzt Kasparow im Geiste des verstorbenen Großmeisters Gufeld. Td2? hätte Weiß wieder Hoffnung gegeben: 25.Kb1! (25.Txd2?? cxd2+ 26.Kb1 d1D matt) Txd5 26.c6 und Schwarz besitzt nur noch geringen Vorteil im Vergleich zu vorher. 25.Td8+ Was sonst? 25.a4 c2+ 26.Ka2 führt zum umgehenden Matt durch c1S+ 27.Ka3 Tb3. Txd8 26.Kb1 Td2 27.g3 Ld4 Weiß gab auf wegen 28.Lc4 Tb2+ 29.Kc1 (29.Ka1 c2 30.a4 Tb1+ 31.Ka2 Txh1) Le3+ 30.Kd1 c2+ 31.Ke2 c1D+ 32.Kd3 Dd2+ 33.Ke4 Dd4 matt. 0:1.

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