Mainzer Studie zeigt auf: Auch am realen Brett ist die Quote mit 7,1 Prozent binnen Jahresfrist hoch / Interview im Schach-Magazin 64

Hartmut Metz hat für die aktuelle August-Ausgabe des „Schach-Magazin 64“, das jetzt an den Kiosken erhältlich ist, ein interessantes Interview geführt. Kim Schu und Dr. Nils Haller stehen Rede und Antwort zu Online-Betrug im Schach beziehungsweise Doping. Auch wenn die Quote durchaus signifikant ist, halten die beiden nichts davon, das „Spiel der Könige“ zum „Spiel der Gauner“ umzubenennen. Die beiden Wissenschaftler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz führten von April bis Juni 2024 eine ausführliche Umfrage unter deutschen Vereinsschachspielern durch, um das Ausmaß von Betrug und kognitivem Doping im Schachsport zu ermitteln.

Youtuber Georgios Souleidis (rechts) sorgte mit einem Aufruf unter anderen für eine hohe Beteiligung an der Studie von Kim Schu.

Allwermann erster bekannter Fall

Seit Schachprogramme stärker spielen als ihre Schöpfer, besteht die Versuchung, sich auf den 64 Feldern Vorteile zu schaffen. Das begann vor mehr als einem Vierteljahrhundert, als der Amateur Clemens Allwermann mit Hilfe von komplizierter Technik, einem Komplizen und dem Programm „Fritz“ zum Sieg beim Open in Böblingen betrog. Der Fall wurde dank der verräterischen Ankündigung von Allwermann gegenüber Großmeister Sergej Kalinitschew („Das ist matt in acht Zügen“) von Metz aufgedeckt und der Täter gesperrt. Die Staatsanwalt stellte damals nach der Jahrtausendwende allerdings die Untersuchung ein angesichts der geringen Preissumme. Das Problem blieb aber, ja verschärfte sich mit zunehmender Stärke der Engines. Zudem waren die selbst auf dem Smartphone irgendwann so übermächtig, dass sich selbst Großmeister mehrfach zu einem „Beschiss auf dem Klo“ verleiten ließen und beim Betrug von aufmerksamen Schiedsrichtern entdeckt wurden. Inzwischen gibt es zumindest bei Topturnieren Kontrollen wie am Flughafen. Selbst harmlose einfache Armbanduhren dürfen nicht mehr während der Partien getragen werden. Einzelne Fälle sorgten dennoch weiter für Aufsehen. So unterstellte sogar Magnus Carlsen dem Weltklasse-Großmeister Hans-Moke Niemann Betrug und boykottierte den US-Amerikaner, dem laut kursierender Gerüchte mit Analperlen die besten Züge eingeflüstert worden sein sollen … Nach einer Klage vor einem US-Gericht verzichtet der norwegische Weltranglistenerster darauf, Öl ins Feuer mit weiteren Vorwürfen zu gießen. Als vehementer Kämpfer gegen „Cheating“ entpuppte sich Wladimir Kramnik. Wobei er zuletzt über das Ziel hinausschoss: So zeigte sich der Ex-Weltmeister in Karlsruhe beim Grenke-Festival zusammen mit Niemann, was allseits Verwunderung auslöste. Noch mehr galt das zuletzt, als Kramnik eine Breitseite gegen vermeintliche Betrüger auf der Online-Plattform Chess.com abschoss. Der dabei ins Fadenkreuz geratene David Navara wehrte sich mit einem offenen Brief. Alle, die den sensiblen Tschechen kennen, halten ihn für zu fair, um derlei zu betrügen.

„Chefermittler“ Wladimir Kramnik (von links) zeigte sich beim Turnier in Karlsruhe überraschend mit Hans-Moke Niemann und führte lockere Gespräche mit Großmeister Sebastian Siebrecht.

Wissenschaftler Haller spielt im Stammverein von Vincent Keymer

Aber am häufigsten geschieht die Vorteilsnahme im Web auf Online-Plattformen. Immer wieder bekommen Spieler Ratingpunkte gutgeschrieben, weil auf Lichess oder Chess.com Betrüger enttarnt wurden. Was treibt solche Schachspieler an, geht es doch dabei meist nur um Ruhm und Ehre, sprich um ein paar zusätzliche Ratingpunkte, die man vorweisen kann? Im Interview nehmen Kim Schu und Dr. Nils Haller Stellung dazu. Die beiden Wissenschaftler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz führten von April bis Juni 2024 eine ausführliche Umfrage unter deutschen Vereinsschachspielern durch, um das Ausmaß von Betrug und kognitivem Doping im Schachsport zu ermitteln. Beide sind Hobby-Schachspieler. Haller tritt sogar für den Stammverein von Vincent Keymer in der Verbandsliga an, den SK Gau-Algesheim. So hat er sich mit dem deutschen Topspieler sogar in einem Simultan ihres Vereins gemessen. Haller, der aktuell eine DWZ von 1624 hat, verzichtete damals natürlich auf Hilfsmittel und unterlag dem Aushängeschild des Klubs.

Der wohl über jeden Verdacht erhabene David Navara wehrte sich mit einem offenen Brief gegen überraschende Vorwürfe von Wladimir Kramnik.

Kim Schu bei Fußball-WM und -EM sowie für FSV Mainz 05 im Einsatz

Schu nennt selbst Schach als eines seiner Hobbys. Im Fußball hat der 30-jährige Doktorand aber schon mehr Erfahrung gesammelt. Bevor und während er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von 2019 bis 2021 seinen Master of Science im Sportmanagement machte, arbeitete er bei dem deutschen Fußball-Bundesligisten FSV Mainz 05 in mehreren Positionen. Bei der Fußball-WM 2022 in Katar und 2024 bei der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland war er für den Deutschen Fußball-Bund bei Fan- und anderen Projekten engagiert.

Vincent Keymer (rechts) steht bei seinem Stammverein SK Gau-Algesheim am Simultanbrett von Klubkamerad und Studienleiter Nils Haller.

„The Big Greek“ sorgt für hohe Teilnahmequote an Studie

Schu und der 36-jährige Haller nahmen bei ihrer ersten Zusammenarbeit die zunehmende Sorge über betrügerisches Verhalten beim Schach wahr, zumal im während Corona boomenden Online-Schach die Täter noch viel leichteres Spiel haben. Schließlich bleiben sie in den heimischen vier Wänden vor dem PC oder dem Smartphone unbeobachtet. Die Erhebung im Vorjahr fand breite Resonanz unter den aktiven Vereinsschachspielern in Deutschland. Unter anderem warb der Internationale Meister Giorgios Souleidis als beliebter Youtuber „The Big Greek“ für eine Unterstützung der Studie. Die 1.924 Teilnehmer, die ziemlich genau zwei Prozent aller beim Deutschen Schachbund (DSB) gemeldeter Vereinsspieler stellen, belegen das große Interesse an dem unersprießlichen Thema. Laut den beiden Forschern nahmen 899 Spieler aus der Bezirks- oder Kreisligen teil. Zudem treten 792 Teilnehmer in der Regionalliga, Oberliga, Verbandsliga oder Landesliga. an Und sogar 56 Spieler aus der ersten oder zweiten Bundesliga stellten sich den Fragen. Die Spielstärke lag bei 80 Prozent der Befragten zwischen 1.600 und 2.200 Ratingpunkten. Die Umfrage führten die beiden Wissenschaftler vom Institut für Sportwissenschaft, Fachgebiet Sportökonomie, Sportsoziologie und Sportgeschichte online durch. Sie sei vollständig anonym erfolgt, betont das Duo.

Betrug im Vereinsschach mehr als ein Randphänomen

„Um ehrliche Angaben zu sensiblen Themen wie Betrug oder Doping zu ermöglichen, kam neben direkten Fragen auch die sogenannte Randomized-Response-Technik (RRT) zum Einsatz. Dabei geben die Teilnehmer ihre Antwort auf eine harmlose oder sensible Frage nach einem Zufallsprinzip – ohne dass erkennbar ist, auf welche der beiden sie tatsächlich antworten“, erläutern Schu und Haller ihre Vorgehensweise. Dadurch könnten die Angaben nicht mehr einzelnen Personen zugeordnet werden, was eine höhere Ehrlichkeit begünstigen und realistischere Zahlen zu sensiblen Fragen ermöglichen soll. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass „Betrug und kognitives Doping auch im deutschen Vereinsschach kein Randphänomen sind“, stellen die Forscher fest. Im fraglichen Zeitraum von geschätzten zwölf Monaten gaben 7,1 Prozent zu, unerlaubte Hilfe durch Engines oder andere Informationsquellen im sogenannten Over-the-board (OTB)-Schach, also am realen Brett, genutzt zu haben! Das wäre nahezu jeder Vierzehnte! Erstaunlicherweise lag damit die Betrugsquotient sogar höher als im Online-Schach! Dabei ist die Fall-Höhe mit 6,2 Prozent auch hoch, aber geringer als im OTB-Schach, räumte doch nur knapp mehr als jeder Siebzehnte ein, auf den Online-Plattformen binnen Jahresfrist mindestens einmal Unterstützung genutzt zu haben.

Jüngere Spieler betrügen online fast viermal so viel

Besonders auffällig ist, dass jüngere Spieler häufiger im Online-Schach betrogen haben als ältere: Dabei stehen zehn Prozent nur 2,7 Prozent gegenüber! Das ist fast viermal so viel. Haller und Schu mutmaßen, der enorme Unterschied „könnte darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Spieler mit digitalen Tools und Technologien vertrauter sind als ältere Personen, was ihnen das Betrügen zugänglicher machen könnte.“

Hinsichtlich OTB-Schach haben Aktive, die bevorzugt lange OTB-Partien (Schnell- oder Turnierschach mit Standardbedenkzeit) spielen, merklich häufiger geschummelt (10,5 Prozent) als Spieler bei kürzeren Formaten, wie Bullet oder Blitz (4,2 Prozent). Die gravierende Differenz ergibt sich logischerweise, weil beim Ein-Minuten-Blitz (Bullet) oder anderen Blitzpartien kaum Zeit bleibt, sich Hilfe zu besorgen. Bei längeren Bedenkzeiten kann sich der Spieler eher mal verdrücken, um fern des Brettes externe Hilfe zu beanspruchen. Dazu zählen neben beispielsweise ein verstecktes elektronisches Gerät auf der Toilette oder Ratschläge von einer dritten Person in einem unüberwachten Bereich.

Schwächere und ältere Spieler dopen sich seltener

Der Anteil der Spieler, die verbotene leistungssteigernde Mittel eingenommen haben (kognitives Doping), wurde auf 5,1 Prozent geschätzt. Das nutzten schwächere Teilnehmer an der Umfrage weit seltener (2,3 Prozent). Den Grund, mutmaßen die Mainzer Autoren, könnte darin zu suchen sein, dass diese Gruppe „geringere Anreize und Motivation hat zu betrügen, da sie nicht durch hohe Preisgelder, Prestige und den Wettbewerbsdruck bei hochrangigen Turnieren in Versuchung geführt wird“. Ältere Spieler über 50 Jahre wiesen ebenfalls eine leicht geringere Prävalenz auf (4,3 Prozent), „was möglicherweise auf stärkere ethische Überzeugungen („Etikette“) oder Bedenken hinsichtlich gesundheitlicher Risiken und Nebenwirkungen der Substanzen zurückzuführen sein kann“.

Häufige Beratung bei Online-Schach

Neben den Randomized-Response-Technik-Fragen wurden auch direkte Fragen gestellt, um die speziellen Methoden des Betrugs zu erforschen. Hier zeigte sich, dass 4,3 Prozent der OTB-Spieler angaben, sich im Voraus mit dem Gegner auf ein Spielergebnis verständigt zu haben. Das heißt, dass rund jeder 24. in dieser Form manipulierte. Im Online-Schach räumten 9,2 Prozent ein, sich während der Partie von Dritten beraten lassen zu haben.

Auch die Verwendung leistungssteigernder Mittel wie Koffein untersuchten die Mainzer. 47,2 Prozent der OTB-Spieler und 32,6 Prozent der Online-Spieler gaben an, im vergangenen Jahr gezielt Kaffee, Energy-Drinks oder ähnliche Substanzen zur Steigerung der Konzentration eingenommen zu haben. Allerdings sei betont, dass der Konsum dieser Getränke keinen Regelverstoß bedeutet und legal ist!

Schiedsrichter und Funktionäre bereits zu Gegenmaßnahmen befragt

Die Ergebnisse der Studie liefern nach Meinung der Autoren „wichtige Erkenntnisse, um Risiken für Betrug und kognitives Doping im Schach besser zu erkennen und gezielt Gegenmaßnahmen entwickeln zu können“. Haller und Schu bauten bereits darauf auf und schlossen mittlerweile eine zweite Studie ab. So wurden konkrete Anti-Cheating-Präventionsmaßnahmen bei Schach-Wettkämpfen untersucht. Die erneut umfangreiche Befragung richtete sich erneut an dieselbe Klientel. Zur Ergänzung befragten die beiden Sportwissenschaftler zahlreiche Experten – darunter Vertreter des DSB, Schiedsrichter sowie Staffelleiter. So sollten fundierte Einblicke in bestehende Vorkehrungsmaßnahmen aufgezeigt werden. Zudem wollen Haller und Schu die Entwicklung und Implementierung wirksamer Anti-Cheating-Strategien im organisierten Schachsport analysieren. Die Ergebnisse der Studie sollen Ende des Jahres 2025 veröffentlicht werden, kündigen die Mainzer an. Man darf gespannt sein, ob der Kampf gegen Windmühlen wirksam geführt werden kann oder die Betrüger dank Künstlicher Intelligenz ihre Methoden verfeinern, um unentdeckt zu bleiben.