A. Musitschuk – Sutovsky: mit einer netten Kombination leitet weiß eine Serie von spektakulären Halbzügen “allererster Sahne” ein |
Baby-Geschrei im Hotel hilft Dr. Tarrasch auf der a-Linie / Sutovsky versucht Renaissance
Von Hartmut Metz
Die seligen Zeiten von Hängepartien sind vorbei – fast vorbei. Um Zeit zu sparen und Turniere besser planen zu können, wurde ein jahrzehntealtes Relikt abgeschafft: Nach 40 Zügen gab ein Spieler seinen Abgabezug in ein Kuvert, anschließend analysierten beide Seiten die besten Fortsetzungen und setzten an einem anderen Tag die Begegnung fort. Das schuf zuweilen makellose Kunstwerke am Ende einer Partie – konnte jedoch bei weiteren Abbrüchen auch an die Nerven gehen. Vor allem wenn schwerblütig agierende Recken mehrere Hängepartien produzierten, die nach weiteren 20 Zügen wieder abgebrochen wurden …
Die Hängepartien sorgten aber auch für manche Anekdote. So lehnte der große deutsche Schachlehr-meister Dr. Siegbert Tarrasch, der keine Sekundanten zur Analyse seiner Hängepartien heranzog, einmal die Gratulanten nach einem Sieg ab: „Ich habe nur durch fremde Hilfe gewonnen! Als ich über der Partie brütete, schrie nebenan im Hotelzimmer ein Baby ständig ,Aaaa!’ Ich folgte dem Rat und entdeckte den Gewinn auf der a-Linie.“
Heiter endete auch eine Partie 1947 beim deutschen Hauptturnier in Weidenau. Walter Loose hatte gegen Paul Tröger eine Hängepartie. Die sah nach einer ersten schnellen Analyse dank eines Mehrbauern gewinnträchtig für ihn aus. Doch reichte es tatsächlich? Glücklicherweise stand nachmittags ein Ausflug mit Kaffeetafel an. Weil alles nach dem Krieg noch rationiert war, erhielt jeder zwei Stücke Kuchen – auf dem Gemeinschaftsteller standen jedoch für acht Mann am Tisch 17 Stück! Eines war folglich zu viel. Loose kam ein grandioser Einfall: „Herr Dr. Tröger, wenn Sie unsere Hängepartie aufgeben, können Sie das restliche Kuchenstück essen“, schlug er vor. Der schlagfertige Journalist dachte nicht lange nach und bemerkte kurzerhand: „Ich gebe auf, mehr kann ich aus der Stellung nicht mehr herausholen!“
Mehr unter dem kreativen als humoristischen Aspekt sah Emil Sutovsky sein Turnier, das er in Amsterdam organisierte. Der israelische Großmeister will damit eine Renaissance der Hängepartie einleiten. Nach 40 Zügen wurde wie früher abgebrochen und durfte auch mit Computer analysiert werden. Der Ukrainer Wassili Iwantschuk (5:1 Punkte) fühlte sich pudelwohl und gewann vor dem Amerikaner Gata Kamsky (4,5:1,5), Sutovsky (3,5:2,5) und Anna Musitschuk (3:3). Die Weltranglistenzweite aus Slowenien spielte mit Sutovsky die schönste Partie des Turniers – sie endete jedoch schon vor dem Abbruch zur Hängepartie.
A. Musitschuk – Sutovsky: schwarz hat (keine) Damenwahl |
W: Musitschuk S: Sutovsky
1.e4 c6 2.d4 d5 3.e5 Lf5 4.h4 h6 5.g4 Le4 6.f3 Lh7 7.e6!? Dieses einengende Bauernopfer galt in alten Büchern als gut für Weiß – Computer interessieren sich nicht für derlei Einschätzungen und empfehlen zum Beispiel Dd6! als leicht vorteilhaft für Schwarz! 8.exf7+ Kxf7 Weil Schwarz nun zum einen ein unangenehmes Schach auf g3 droht und auch das befreiende e5 plant, wonach alle Figuren mühelos ins Spiel kommen, ist Musitschuk zum neunten Bauernzug in Folge gezwungen! 9.f4 Sutovsky fragte sich in seinen Kommentaren, ob das neuer Weltrekord sei in einer Großmeister-Partie. Der Gengenbacher Gambitbegründer Emil-Joseph Diemer, der allerdings kein Großmeister war, schaffte einmal von Beginn an sogar 17 Züge und gewann. Sf6 10.Lh3 c5 11.g5 hxg5 12.hxg5 Se4 13.Lc8!? Ein origineller Zug statt des natürlichen 13.Sf3. Sc6 14.Lxb7 De6!! Bei Tb8? 15.Lxc6 Dxc6 16.Sf3 ginge der weiße Plan auf, denn der Springer würde das Feld e5 okkupieren. Darauf hatte Musitschuk auch bei Lc8 vertraut, aber den famosen Konter ihres Gegners nicht bedacht. 15.Se2 Am besten. Prosaisch wäre 15.Dh5+ Lg6!! 16.Dxh8 Sxd4 17.Lxa8 verlaufen. „Eine der malerischsten Stellungen, die ich je gesehen habe“, geriet Sutovsky ins Schwärmen. Mehr als Sg3+ 18.Kf2 Se4+ 19.Kf1 Sg3+ 20.Kf2 Se4+ mit Zugwiederholung und Remis hätte er jedoch auch nicht erzwingen können. Tb8 16.Lxc6 Dxc6 17.f5 g6 Kg8! ist stärker – indes war zwar 18.g6 Lxg6 19.Txh8+ Kxh8 20.fxg6 Df6 mit Gewinnstellung zu finden, aber kaum 17…Kg8! 18.Lf4 Txb2 19.Dc1 Tb6! 20.dxc5 Dxc5 21.Le3 Da5+ 22.c3 Lxf5 23.Txh8+ Kxh8 24.Lxb6 Dxb6 25.Df4 e6 26.Sd2 Sc5 und Schwarz verfügt über kräftige Initiative für die geopferte Qualität. 18.Sf4 Lg7 19.Txh7 19.Df3 ist eine gute Alternative – verständlicherweise bevorzugen auch Computer den Textzug. Txh7 20.fxg6+ Dxg6! Natürlich nicht Kf8 21.gxh7 mit materieller Ruine. Das Damenopfer hatte Sutovsky schon als Pointe bei 17…g6 ausgearbeitet! 21.Df3! 21.Sxg6 Th1+ 22.Ke2 Txd1 23.Kxd1 Kxg6 verliert Weiß, wegen der schwachen Diagonale: 24.dxc5 Txb2! 25.c3 Sf2+ 26.Ke1 Sd3+ 27.Kd1 Sxc1 28.Kxc1 Tb5 29.c6 Tc5 30.a4 Txc6 31.Ta3 Kxg5 32.Kd2 Kf5 und die Zentrumsbauern bringen die Entscheidung zu Gunsten des Nachziehenden. Tf8!! Kümmert sich weiterhin nicht um die einstehende Dame! 22.Sd2! 22.Sxg6+ Kxg6 23.Dg2 (23.Dxf8 Lxf8 24.Sd2 cxd4 25.Sf3 Lg7 ist hoffnungslos, weil die weißen Figuren nicht ins Spiel kommen) Lxd4 24.Sd2 Tf2 25.Dxf2 Traurige Notwendigkeit. Lxf2+ 26.Ke2 Ld4 27.Sxe4 dxe4 28.c3 Th2+ 29.Kd1 Le3 30.Lxe3 Th1+ 31.Kc2 Txa1 32.Lxc5 Kxg5 33.Lxe7+ Kf4 und der e-Bauer macht das Rennen. Dxg5 Schwarz zieht endlich seine Dame aus dem Schlagbereich des Springers. 23.Sxe4 Dg1+ 24.Ke2 Th2+ 25.Sf2 Kg8 Ke8! stellt Weiß vor größere Probleme. Nur 26.Le3! Dxa1 27.Dxd5 Txf2+ 28.Kxf2 Tf6 29.Da8+ Kf7 30.Dd5+ e6 31.Dxc5 Dxb2 32.Dxa7+ Kg8 33.Da8+ Lf8 34.Dc6 hält die Waage. 26.Dxd5+ Tf7 27.Da8+ Tf8 Lf8 28.Df3 verteidigt sich ausreichend. 28.Dd5+ Tf7 29.Da8+ Tf8 30.Dd5+ Tf7 31.Da8+ remis.
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