Zehnjähriger Vincent Keymer düpiert beim Pfalz-Open mehrere Großmeister
Keymer – Karpatschew: Ein „stiller“ weißer Zug leitet die gegnerische Niederlage – genauer: ein Matt in elf Zügen – ein

Von Hartmut Metz
„Ein deutsches Jahrhunderttalent?“, titelt die belieb- teste deutsche Webseite www.chessbase.de begeis- tert mit Blick auf Vincent Keymer. „Er ist erst zehn Jahre alt und damit jetzt schon weiter, als es Magnus Carlsen im gleichen Alter war“, vergleicht Autor André Schulz das Talent mit dem norwegischen Weltmeister. Grund für die bundesweite Euphorie: Keymer trumpfte beim Pfalz-Open in Neustadt erstaunlich auf. Der Knabe vom SK Gau-Algesheim blieb im A-Open in den neun Runden ungeschlagen und belegte mit 6,5 Punkten Platz acht – gleichauf mit Elo-Favorit Wladimir Baklan (2652) aus der Ukraine und dem Serben Ivan Ivanisevic (2638). Den Hobby-Fußballer spülte es in Neustadt aber nicht – wie es manchmal in Open Amateuren mit etwas Glück passiert – durch zwei Schlussrunden-Siege zufällig nach vorne. Keymer bezwang zum einen den russischen Großmeister Aleksander Karpatschew und remisierte mit IM Juri Boidman, GM Mathias Womacka und vor allem auch dem jungen deutschen GM Dennis Wagner! Damit nicht genug:
In der letzten Partie lehnte er eine Remisofferte von Großmeister Spyridon Skembris ab und schlug den Griechen! Auf das Friedensangebot des Favoriten „reagierte Vincent gar nicht besonders“, berichtet Vater Christof Keymer, „Vincent hat eine Minute nachgedacht und weitergespielt.“ Die verblüffend banale Begründung seines Filius, warum er nicht wie andere Kinder ehrfürchtig die ausgestreckte Hand ergriff: „Schließlich stand ich besser.“ Entsprechend nüchtern bewertet das Talent mit einer DWZ von bis dahin 2155 sein Abschneiden und die Performance von 2552 Elo: „Es war ein gutes Turnier“ – die Antwort überrascht seinen Papa kaum. Er nennt das „eine typisch einfache Vincent-Erklärung“.
Der bei Interviews einsilbige Bursche erlernte mit fünf Jahren die Grundzüge des Denksports. Seit dem sechsten Lebensjahr spielt er Klavier. „Er wollte unbedingt Schach lernen, deshalb haben wir Eltern mit ihm gespielt. Keiner ist aber in irgendeiner Weise wirklich Schachspieler“, erzählt Christof Keymer und schiebt nach, „nach ein paar Monaten haben wir ihn dann im Verein des Nachbarorts Wörrstadt angemeldet, weil sein Schachhunger einfach zu groß für uns war. Bis auf DWZ 1500 ist er dann im Prinzip ohne Einzeltraining gekommen.“ Durch den Turniererfolg in Neustadt an der Weinstraße ändert der Junge „seine Pläne nicht: Sein Ziel war es von Anfang an, möglichst gut Schach zu spielen. Das klingt unspektakulär, scheint in seinem Fall aber ein gutes Ziel zu sein“, betont Vincents Vater.
Bundestrainer Dorian Rogozenco will nicht zu überschwänglich klingen, wenn er meint: „Vincent ist sicherlich ein Riesentalent, aber es ist noch zu früh zu sagen, ob er auch das Zeug zu einem Spitzenspieler hat. Das wird sich erst später zeigen“, tritt der Hamburger auf die Euphoriebremse und gibt immerhin zu, „ich hoffe allerdings sehr, dass er ,unser Magnus‘ wird.“ Beim Deutschen Schachbund ist Bernd Vökler für den neuen Nachwuchsstar zuständig. „Ich bleibe aber mit Bernd immer in Verbindung: Er setzt sehr viel auf Vincent und hat schon einige Projekte speziell für ihn entwickelt“, betont der Bundestrainer. Beim nächsten Turnier in Hofheim blieben weitere Sensationen aus – die 4,5/9 beim Frühjahrs-Open entsprechen aber immer noch einer beachtlichen Leistung von 2217.
Der Förderer des ehemaligen Weltmeisters wurde auch schon frühzeitig auf Keymer aufmerksam. „Sein Verein, der SK Gau-Algesheim, ist Mitglied bei den Chess Tigers im Jugendbereich – er ist von uns ausgestattet worden mit den Lektionen von Jussupow und Dworetzki sowie Endspiel-Experte Karsten Müller“, erzählt Hans-Walter Schmitt, der früher die berühmten Chess-Classic-Turniere in Frankfurt und Mainz organisierte und nun eine erfolgreiche Schachschule, die Chess Tigers, leitet. Zudem durfte das Talent dort mit Michael Prusikin und Klaus Bischoff analysieren. Damit nicht genug laut Schmitt: „Im September haben wir angefangen, was ihm sonst keiner bieten kann: Trainieren und Spielen mit Viswanathan Anand!“
Der Ex-Weltmeister aus Indien war nach dem Open in Neustadt und der um einen halben Punkt verpassten GM-Norm „sprachlos über die 2552er-Performance eines Zehnjährigen“, plaudert Schmitt aus dem Nähkästchen und gibt preis, was sein langjähriger Freund forderte: „Jetzt müsst ihr ihn fördern!“ Weil dem humorvollen Anand immer der Schalk im Nacken sitzt, hatte der „Tiger von Madras“ noch vor Neustadt gescherzt: „Ich will euch nicht helfen, denn Deutschland muss nicht in allen Disziplinen Weltmeister sein!“ Wer den 45-Jährigen kennt, weiß, dass er auch bei Keymer hilfsbereit sein wird – und der Junge womöglich deshalb einer seiner Nachfolger wird. Das deutsche Schach braucht schließlich einen eigenen Magnus Carlsen.
Nachstehend der Schlussakkord gegen Karpatschew. Die komplette Partie liegt nicht vor – wie schon ein Großer hält der kleine Junge seine Partien und Varianten geheim. Das wird jedoch nicht mehr lange gehen, wenn Keymer sich weiterentwickelt wie erhofft.

Keymer – Karpatschew

1.Kh1! Der stärkste Zug. „Matt in elf Zügen“ vermelden Schach-Programme danach. Df3 Das verhindert zwar durch die Fesselung des Turms das vernichtende Th2+, nun gewinnt jedoch: 2.De6+ Schwarz gab auf wegen Kh7 3.Dh3+ Kg8 4.Dxc8+ Kh7 5.c7 Df1+ 6.Kh2 Lxg3+ 7.Kxg3 De1+ 8.Kg4 Dd1+ 9.Kg5 und das Matt folgt unausweichlich. 1:0.

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