Crowl – Purdy: Schwarz zieht und gewinnt “postwendend” |
Dem Fernschach droht nach mehr als 200 Jahren das Aus
Von Hartmut Metz
Die Geschichte des Fernschachs neigt sich dem Ende zu. 1804 trugen Den Haag und Breda den ersten bekannten Wettkampf aus. Die besten Spieler der holländischen Städte tauschten per Kurier ihre Züge aus. Auf dem Höhepunkt dieser beliebten Kämpfe schlug Edinburgh zwischen den Jahren 1824 und 1828 London mit 3:2. Die Post transportierte Milliarden von Zügen rund um den Globus von Argentinien nach Russland, von Australien in die USA … Je nach Postlaufzeit der Fernschachkarten und Bedenkzeit-Tage pro Zug konnten die Partien ewig dauern. Das führte zu Blüten wie jener, dass die Sowjetunion und die DDR nach ihrem Untergang noch lange nicht matt gesetzt waren! Mehr als vier Jahre später holten die Nationalmannschaften 1995 ihre letzten WM-Medaillen für die beiden Staaten. Nun scheint das letzte Totenglöckchen für das Fernschach zu läuten. In einem Beitrag für die Zeitschrift „Schach“ analysiert Arno Nickel die Veränderungen, die die Computer für den Denksport brachten. Werden die spielstarken Programme namens „Houdini“, „Shredder“ oder „Fritz“ im herkömmlichen Turnierschach nur von Betrügern auf Smartphones benutzt, gelten sie im Fernschach als legitimes Hilfsmittel – was zwei frappierende Folgen hat: Zum einen zogen sich immer mehr Spieler aus der Sparte zurück. Von einer sechsstelligen Anhängerzahl verblieben laut Nickel nur noch rund 10 000 Aktive innerhalb des Weltverbandes ICCF, die per Post, E-Mail oder Web ihre Züge austauschen. Die Enttäuschten verspürten meist keine sonderliche Lust mehr, sich statt mit anderen Menschen nur mit deren Elektronik zu messen.
Letzteres hat auch fatale Auswirkungen auf die Ergebnisse: Die Stellvertreter neutralisieren sich, wenn trotz menschlicher Unterstützung schlussendlich „Houdini“ gegen „Houdini“ spielt. Kaum eine Partie mehr wird auf höchstem Niveau entschieden, ermittelte Nickel. Als extremstes Beispiel führt der Fernschach-Großmeister ein Turnier auf, bei dem fast 95 Prozent aller Begegnungen ohne Sieger endeten! Nur vier von 78 Partien wurden beim Bielecki Memorial bisher entschieden. Der Berliner kommt daher zum Schluss: „Der Remistod steht bereits vor der Tür!“
Selig die Zeiten, als noch jeder auf sich oder seine Vereinskameraden angewiesen war: So endete manches Duell auch im Fernschach dank grober Patzer nicht erst nach 86 Zügen, sondern im Eröffnungsstadium. Ein Beispiel lieferte Cecil Purdy in der nachstehenden Fernschachpartie gegen Frank Arthur Crowl. Der Australier, der 1953 erster Fernschach-Weltmeister der Geschichte wurde, behielt mit Schwarz nach nur elf Zügen die Oberhand.
Von Purdy ist eine schaurig-schöne Anekdote überliefert: Er starb 1979 während einer Nahschachpartie bei den Meisterschaften von Sydney gegen Ian Parsonage an einem Herzinfarkt. Seine letzten Worte waren im Alter von 73 Jahren: „Ich habe eine Gewinnstellung, aber es wird noch einige Zeit brauchen!“
W: Crowl S: Purdy
1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sc3?! Der Zug galt mal als interessant – hat aber auch seine Tücken, wie die Partiefortsetzung zeigt. 3.Lc4 verfolgt dasselbe Ziel präziser: Schwarz kann ruhig das Damenschach auf h4 geben. Darauf muss zwar der König weichen, kann aber nach dem Läuferzug nach f1 ziehen. Anschließend kommt Weiß mit dem Springer auf f3 mit Tempo zur Entwicklung. Dh4+ 4.Kf1 (4.g3?? ist ein bekannter Patzer: fxg3 5.Sf3 Nun zieht Schwarz nicht die angegriffene Dame weg, sondern gewinnt mit g2+ 6.Sxh4 gxh1D+) Sc6 5.Sf3 Dd8 6.Sc3 d6 7.d4 g5 8.h4 Sa5 9.Lxf7+!? (9.Le2 ist weniger riskant: g4 10.Se1 Sf6 11.Lxf4 und das starke Zentrum samt Entwicklungsvorsprungkompensiert die etwas unsicherere Königsstellung) Kxf7 10.Sxg5+ Kg7 11.Dh5 De7 führt zu zweischneidigem Spiel. Dh4+ 4.Ke2 d5 Computer bevorzugen heutzutage d6. 5.Sxd5 Lg4+ 6.Sf3 Sc6! Beide Seiten scheuen nicht vor wilden Opfern zurück. 7.d4? 7.Sxc7+ Kd8 8.Sxa8 Se5 9.De1 Sxf3 10.Dxh4+ Sxh4+ 11.Ke1 f3 12.gxf3 Sxf3+ 13.Kf2 Lc5+ 14.d4 Lxd4+ 15.Le3 Sf6 16.Lxd4 Sxd4 17.Lg2 Kc8 gewinnt Purdy schwieriger. Hinter dem Horizont des Computers verschwindet, dass der Springer auf a8 nicht mehr herauskommt und Schwarz am Schluss zwei Figuren für einen Turm besitzt: 18.e5 Sd7 19.The1 Sc5 20.Te3 Kb8 21.Tg1 h5 22.h3 Lc8. 0–0–0 8.Kd3 8.Lxf4!? reicht als bester Zug auch schon nicht mehr. f5 9.Ke3 Dh5 10.Lc4 fxe4 11.h3 Lxf3 12.gxf3 Txd5 13.Lxd5 Dxd5 14.fxe4 Df7 Schwarz behält langfristig die Oberhand. f5! 9.De2 9.Sxh4 fxe4+ 10.Kd2 Lxd1 11.Kxd1 Txd5 12.c3 Sf6 und weil 13.Lxf4 an g5 14.Lc4 gxf4 15.Lxd5 Sxd5 scheitert, verliert das Nehmen mit dem Springer auf h4. fxe4+ 10.Dxe4 Lxf3 11.Dxf3 Txd5! 0:1. Crowl gab wegen des Figurenverlusts auf. 12.Dxd5 hat nämlich Sb4+ 13.Kc4 Sxd5 zur Folge.
Partie online nachspielen:
Danke für den Link! In seinem Beitrag suggeriert Herr Bekemann, dass der “dortige Autor” der Rochade Kuppenheim, gemeint ist Hartmut Metz, nur seine Vorurteile pflege und selbst nie Fernschach gespielt habe. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich von ihm weiß: Er spielte auch durchaus gut und verpasste in den 90er Jahren, als Computer noch keine Rolle spielten, mit 11,5/14 (Performance von über 2600 FS-Elo) im Halbfinale nur knapp den Einzug in das Weltpokal-Finale. Als offensichtlich wurde, dass immer mehr Spieler Programme einsetzen, verlor der (Nahschach-)FM die Lust am Fernschach. Im Übrigen sprechen die Zahlen von Arno Nickel eine eindeutige Sprache: Ohne den exzessiven Einsatz von Programmen gäbe es keine so exorbitant hohe Remisquote. Daher ist der Hinweis, dass “Houdini” gegen “Houdini” spielt, vielleicht etwas überspitzt, trifft aber auf jeden Fall den Kern.
Der obige Artikel von Hartmut Metz wird von dem Fernschachspieler Uwe Bekemann unter der hinterlegten URL kommentiert…