Reti – Aljechin: Schwarz am Zug gewinnt

Ehemaliger Weltmeister spielt seine beste Partie in Baden-Baden
Von Hartmut Metz
Baden-Baden hat so viele große Schach-Champions wie kein anderer Ort in Deutschland angezogen. Bis morgen zeigt Weltmeister Viswanathan Anand seine Kunst im LA8 bei den Grenke Chess Classic. Zuvor inspirierte die Kurstadt zwei seiner Vorgänger, deren Namen ebenfalls mit A beginnt, zu Großtaten: Zum einen gewann Adolf Anderssen das erste legendäre Turnier im Kurhaus 1870. Zum anderen trumpfte Alexander Aljechin vom 15. April bis 14. Mai 1925 auf. Der spätere Weltmeister (1927 bis 1935 und von 1937 bis zu seinem Tod 1946) deklassierte mit 16 Punkten aus 20 Runden die Weltelite. Koryphäen wie Akiba Rubinstein (14,5), Fritz Sämisch (13,5) und Jefim Bogoljubow (13) landeten deutlich hinter dem gebürtigen Russen. Bis heute in Erinnerung gebliebene Vordenker wie Aaron Nimzowitsch, Richard Reti und Siegbert Tarrasch, der das erste Buch über das Turnier verfasste, landeten abgeschlagen im Mittelfeld – nach den drei sind noch heute Eröffnungsvarianten benannt. Vor allem revolutionierten sie die Ansichten über das königliche Spiel mit ihren Prinzipien. Dem kombinationsgewaltigen Aljechin war das Trio indes in Baden-Baden nicht gewachsen.
Hintergrund: Schachhistorie in Baden-Baden
Der 33-Jährige spielte seiner Ansicht nach in Baden-Baden die schönste Partie seiner glorreichen Karriere. Daher beklagte er sich darüber, dass damals bei dem Turnier kein Schönheitspreis ausgelobt wurde. In der Tat hätte Aljechin sich diesen am 25. April 1925 verdient!

W: Reti S: Aljechin
1.g3 e5 2.Sf3 e4 3.Sd4 d5 4.d3 exd3 5.Dxd3 Sf6 6.Lg2 Lb4+ Aljechin missfiel dieser Zug später. 7.Ld2 Lxd2+ 8.Sxd2 0–0 9.c4 Sa6 10.cxd5 Sb4 11.Dc4 Sbxd5 12.S2b3 c6 13.0–0 Te8 14.Tfd1 Lg4 15.Td2 Dc8 16.Sc5 Lh3 17.Lf3 Lg4 18.Lg2 Lh3 19.Lf3 Lg4 20.Lh1 Reti hätte mit 20.Lg2 die dreifache Stellungswiederholung und ein Remis akzeptieren können – doch er wollte mehr: löblich! Ansonsten wäre der Schachwelt eine geniale Partie entgangen. h5 21.b4 a6 22.Tc1 h4 23.a4 hxg3 24.hxg3 Dc7 25.b5 Der Zug wurde häufig kritisiert. Doch wie John Nunn und John Emms in „The world’s greatest chess games“ anmerken, sei die Fortsetzung logisch und nicht schlechter als 25.e4 Sb6 26.Db3 Sbd7, wonach Schwarz ausgleicht. axb5 26.axb5 Schwarz sollte sich nun sputen: Weiß macht Druck auf die Damenflügelbauern und erobert diese bald. Daher muss Aljechin rasch Gegenmaßnahme ergreifen – und die sind radikal! Te3!! Wühlt das bisher so scheinbar ruhige Fahrwasser auf und macht die Stellung taktisch. 27.Sf3? Dass Reti den frechen Turm nicht schlagen darf, liegt auf der Hand: 27.fxe3?? Dxg3+ 28.Lg2 Sxe3 29.Td3 Dxg2 matt. Aljechin kam in seinen Analysen zum Schluss, dass Schwarz immer in Vorteil kommt. Spätere Kommentatoren fanden aber Remiswege für Reti. Gefährlich ist auch 27.Lg2 Txg3! 28.fxg3? (28.e3! leistet mehr Widerstand. Sxe3 29.fxe3 Lh3 30.bxc6 bxc6 31.Sde6! Da5 32.Tcd1 fxe6 33.Sxe6 Db5 34.Dxb5 cxb5 35.Sf4 Lxg2 36.Txg2 Txe3 37.Sd5 Sxd5 38.Txd5 Ta1+ 39.Kh2 b4 40.Td7 Kf8 41.Tgxg7 Ta2+ 42.Tg2 b3 43.Txa2 bxa2 44.Ta7 Te2+ 45.Kg3 und das Endspiel ist remis.) Se3 29.Dd3 Dxg3 gewinnt Schwarz. Die schwarzen Tricks unterbindet Reti am besten mit 27.Lf3! Lxf3 28.exf3 cxb5 29.Sxb5 Da5 30.Txd5 Te1+ 31.Txe1 Dxe1+ 32.Kg2 Sxd5 (Ta1? verliert 33.Td8+ Kh7 34.Dh4+ Kg6 35.f4) 33.Dxd5 Ta1 34.Dd8+ (34.Kh3 bringt nicht mehr: Df1+ 35.Kg4 Dxb5 36.Dd8+ Kh7 37.Dh4+ Kg8 38.Dd8+) Kh7 35.Dh4+ Kg8 36.Dd8+ mit Dauerschach. Das kaltblütige 27.Kh2! deckt g3 und bereitet dem Nachziehenden am meisten Schwierigkeiten. Nunn und Garri Kasparow weisen auf Taa3! hin: 28.Sd3! Das unterbricht nicht nur die dritte Reihe und verhindert den erneuten Einschlag auf g3. Mit dem Springerzug kontrolliert Weiß auch das Feld e5, das der Gegner zur Überführung der Dame nach h5 nutzen möchte (28.fxe3? verbietet sich noch immer! Sxe3 29.Db4 Sf1+! 30.Kg1 (30.Txf1 Dxg3 matt) Dxg3+ 31.Lg2 (31.Kxf1 Lh3+) Se3 32.Dxa3 Dxg2 matt). 28…Sh5 (Txg3 bringt nichts mehr: 29.fxg3 Sh5 30.Tg1 Se3 31.Dc1 Tc3 32.Dxc3 Sxg3 33.Txg3 Sf1+ 34.Kg1 Dxg3+ 35.Lg2 Se3 36.Sf4! Dxf4 37.Td3 wehrt alle Drohungen ab) 29.Dxd5! Sxg3! (Txg3 30.De5) 30.Kg1 Sxh1 (Sxe2+ 31.Sxe2 Txe2 32.bxc6 bxc6 33.Txe2 Lxe2 34.Txc6 Ta1+ 35.Kg2 und Weiß gewinnt) 31.Dxh1 Tg3+ 32.fxg3 Dxg3+ 33.Dg2 De3+ 34.Df2 Dxd2 35.Tf1 f6 36.bxc6 bxc6 37.Sf3 und Weiß steht besser, auch wenn noch nicht klar ist, ob das zum Gewinn ausreicht. cxb5! 28.Dxb5 28.Dd4 kontert Aljechin mit Te4! Sc3! Die schwarzen Figuren schwärmen zum Angriff aus. 29.Dxb7 29.Dc4 b5! 30.Df4 Dxf4 31.gxf4 Sxe2+ 32.Txe2 Txe2 33.Sd4 Td8 34.Sxe2 Lxe2 bietet keine Rettungschancen. Dxb7 30.Sxb7 Sxe2+ 31.Kh2 (31.Kf1 Sxg3+! 32.fxg3 Lxf3 33.Lxf3 Txf3+ 34.Kg2 Taa3 35.Td8+ Kh7 36.Th1+ Kg6 37.Th3 Se4 erobert den g-Bauern, wonach der Rest einfach ist.) Nun scheint alles in Ordnung zu sein für Weiß, doch …

Se4!! Aljechin kümmert sich weiterhin nicht um seinen bedrohten Turm auf e3! Sowohl Sxc1 als auch Txf3 32.Txe2 Txg3 33.Kxg3 Lxe2 34.Tc3 sollten zur Punkteteilung führen. 32.Tc4! Reti versucht verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Andere Züge sind noch schlechter. 32.fxe3? Sxd2 33.Sxd2 Sxc1 verliert schlicht. Sxf2 Beseitigt endlich den f2–Bauern, der seit fünf Zügen den Turm bedrohte, ohne ihn je schlagen zu dürfen. Schwächer ist Lxf3? Dann kommt 33.Txe4!! Lxe4 34.fxe3 Lxh1 35.Kxh1 Sxg3+ 36.Kg2 Se4 37.Td8+ Txd8 38.Sxd8 mit guten Remischancen. Sxd2 beantwortet Reti mit 33.Sxd2 Td3 34.Sc5!= und beide Türme hängen. 33.Lg2 Le6! Se4 gewinnt ebenso, aber Aljechin schließt die Partie sehenswert mit einem letzten Feuerwerk ab, auf dass sie einen festen Platz in der Schach-Historie bekommt! 34.Tcc2 Sg4+ 35.Kh3 35.Kh1 Ta1+. Se5+ 36.Kh2 36.Kh4 endet besonders schön: Te4+ 37.g4 Txg4+ 38.Kh3 Th4+!! 39.Kxh4 Sg6+ 40.Kg5 – oder 40.Kh5 Sef4+ 41.Kg5 f6 matt – f6+ 41.Kxg6 Sf4 matt! Txf3! 37.Txe2 37.Lxf3 Sxf3+ 38.Kg2 Sxd2 39.Txd2 Sc3 mit Mehrfigur. Sg4+ 38.Kh3 Se3+ 39.Kh2 Sxc2 40.Lxf3 Sd4 41.Tf2 Sxf3+ 42.Txf3 Ld5 und der Läufer spießt als wunderbare Abschlusspointe Turm und Läufer auf, ohne dass sich diese decken können. 0:1.

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Nur die Kuckucksuhren überleben die Baden-Badener Tradition nicht

Die „reizende Stadt im Lebkuchenhaus-Stil“ hat in der Schach-Historie einen besonderen Platz: Legendäre Turniere von 1870 und 1925
Von Hartmut Metz
Für Georg Meier geht derzeit ein „Traum in Erfüllung“. Der 25-jährige Trierer ist einer von sechs Teilnehmern beim Weltklasse-Schachturnier in Baden-Baden. Damit wandelt der deutsche Mann- schafts-Europameister auf den Spuren seiner großen Idole: Als Kind begeisterte sich der Großmeister für viele aufregende Partien, die bei den Turnieren 1870 und 1925 in der Kurstadt gespielt wurden!
Die Wettbewerbe vor 143 und 88 Jahren sind bis heute legendär. Kein Schach-Lexikon, egal ob deutsch- oder englischsprachig, kommt ohne Abhandlung über die beiden Klassiker aus, ja die „Chess Encyclopedia“ preist den Ort in der Einleitung als „a charming gingerbread-like city in Germany“, eine „reizende deutsche Stadt im Lebkuchenhaus-Stil“ an. Selbst ganze Turnierbücher gibt es darüber, etwa ein 382 Seiten starkes aus den USA, das Jimmy Adams 1991 über die Veranstaltung von 1925 verfasste.
Während sich heute nur ein paar Zuschauer im LA8 verlieren und die Fans das Geschehen zu Abertausenden im Internet verfolgen, dienten die großen Turniere bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts der Unterhaltung der Gäste. Jeder bedeutende Kurort, der etwas auf sich hielt, bat die Denkstrategen ans Brett. Das englische Seebad Hastings wahrte die Tradition seit dem legendären Wettbewerb anno 1895 Jahr für Jahr. Nur das erste Schachturnier überhaupt, 1851 in London, und Baden-Baden 1870 nehmen einen noch höheren Rang in der Historie des 19. Jahrhunderts ein.
Das belgische Ostende, Wiesbaden, Bad Kissingen, Bad Nauheim, Bad Oeynhausen, San Sebastian, Marienbad, Plymouth, Wien, Venedig oder Monte Carlo – wo Bäder und Casinos lockten, waren die Schachspieler zum Zeitvertreib der oberen Zehntausend gerne gesehen. Nicht zu vergessen: In Baden-Badens Partnerstadt Karlsbad fanden ebenso bedeutende Anlässe auf den 64 Feldern statt, besonders berühmt ist der von 1911.

Turgenjew fungiert als Vizedirektor

Beim ersten großen deutschen Turnier im Juli 1870 feierte Adolf Anderssen seinen letzten großen Erfolg. Der 52-jährige Breslauer blieb mit elf Zählern einen halben Punkt vor Wilhelm Steinitz, der sich vier Jahre zuvor nach seinem Match-Sieg über ihn selbst zum ersten Weltmeister ausgerufen hatte. Bis dahin galt Anderssen als der Beste, weil er in London 1851 Platz eins belegt hatte – und vor allem brillante Partien geschaffen hatte, die noch heute Namen tragen wie „Die Unsterbliche“ oder „Die Immergrüne“. Mit diesen begeistert das Kombinationsgenie seitdem Generationen, Georg Meier inklusive.
Als Vizedirektor des Turniers fungierte der Schriftsteller und leidenschaftliche Schachspieler Iwan Turgenjew. Der Wettbewerb schuf auch die Grundlagen für das heutige Reglement: Bei einem Remis mussten die Akteure nicht nochmals gegeneinander antreten, sondern erhielten einen halben Zähler gutgeschrieben. Zudem herrschte erstmals mit einer Stunde für 20 Züge eine strenge Zeitkontrolle – dass die mit Kuckucksuhren gemessen wurde, setzte sich allerdings zum Leidwesen der Schwarzwälder Uhrenindustrie nicht durch … Der Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich beeinträchtigte das Turnier trotz der Grenznähe nur wenig. Adolf Stern musste abreisen und gab alle Partien kampflos ab, Samuel Rosenthal verlor deren zwei.
1925 trumpfte Alexander Aljechin vom 15. April bis 14. Mai auf. Der spätere Weltmeister deklassierte mit 16 Punkten aus 20 Runden Koryphäen wie Akiba Rubinstein (14,5), Fritz Sämisch (13,5) und Jefim Bogoljubow (13). Bis heute in Erinnerung gebliebene Vordenker wie Aaron Nimzowitsch, Richard Reti und Siegbert Tarrasch, der das erste Turnierbuch verfasste, landeten abgeschlagen im Mittelfeld – nach den drei sind noch heute Eröffnungsvarianten benannt! Aljechin klagte darüber, dass es keinen Schönheitspreis gab. Dem später für Frankreich spielenden Russen gelang gegen Reti die schönste Partie seiner Karriere.
Die Tradition der großen Turniere in Baden-Baden wollte Wolfgang Grenke schon immer fortsetzen. „Das ist meine Idee“, sagt der Leasing-Guru. Schon als kleiner Selbstständiger hatte der Amateurspieler, der Anfang der 80er Jahre zu den stärksten im Bezirk Mittelbaden zählte, bei der saarländischen Firma Chessorg für die Kurstadt geworben – mit Erfolg, fortan organisierte Reinhold Hoffmann einige Großmeister-Turniere und stark besetzte Open.
Vizeweltmeister Viktor Kortschnoi musste 1981 den Co-Siegern Zoltan Ribli und Tony Miles den im Kurhaus ausgestellten und ausgelobten Mercedes überlassen. Der Ungar kaufte dem Briten die Hälfte der Nobelkarosse, die im Osten wie Gold gehandelt wurde, kurzentschlossen ab. Um einen 7er BMW für mehr als 70000 Mark ging es 1992, als Joachim Heiermann mit der Bäder- und Kurverwaltung rund um den Globus für Aufsehen sorgte: Weltmeister Garri Kasparow trat im Simultan gegen die deutsche Nationalmannschaft an. Der Russe gewann 3:1 und brauste am 19. Januar mit der Luxuskarosse davon. Viele weitere hochkarätige Events rund um das königliche Spiel folgten bis heute.
Mittlerweile lenkt Grenke selbst die Geschicke. Der Sponsor baute die OSG Baden-Baden auf, die seit sieben Jahren bei Damen wie Herren von Titel zu Titel in den Bundesligen eilt. Mit dem Wettbewerb, der bis Sonntag im LA8 läuft, hat der 62-Jährige auch jetzt die Tradition der Großmeister-Turniere wiederbelebt – und künftig sollen diese jährlich mit Weltmeister Viswanathan Anand & Co. stattfinden. „Es sieht gut aus“, lässt Unternehmer Grenke wenig Zweifel daran, dass er die besondere Historie des Schachspiels in Baden-Baden fortschreiben will.